funny girl
an Toten vorgenommen?
Antwort: Alle meine Autopsien habe ich an Toten vorgenommen.
Ein Witz. Frage und Antwort waren tatsächlich in einem Gerichtsverfahren vorgekommen; das hatte Azime vor kurzem in der Zeitung gelesen. Und sie brauchte ein wenig echten Humor, damit sie nicht immer und immer wieder ein Mädchen fallen sah.
Frage: Kannten Sie den Verstorbenen?
Antwort: Ja, Sir.
Frage: Vor oder nach seinem Tod?
Aber diese witzigen Schnipsel wirkten jetzt nicht. Das Mädchen forderte ihre Aufmerksamkeit. Und bald fragte Azime sich, wieso die Polizei, diese Behüter der Unschuldigen, wenn man ihnen das Video gezeigt hatte, das das Mädchen für die IKWRO -Frauen aufgezeichnet hatte, keine Anklage erhoben hatte, nicht einmal gegen den Onkel.
Azime sah es genau vor sich, das Zimmer, in dem das Mädchen in der Wohnung ihres Onkels wie in einem Gefängnis gesessen hatte, die Tränen im Dunkel, der Onkel, wie er selbst ihre Gänge zur Toilette überwacht hatte. Und dann war sie schließlich entkommen, glaubte sich frei, endlich frei, endlich das Mädchen, das sie im Traum sein wollte, und war doch nur ihren Mördern in die Arme gelaufen.
Frage: Wissen Sie, warum die Anklage auf versuchten Mord lautete und nicht auf Mord?
Antwort: Das Opfer hat überlebt.
Sie ging weiter, die Sonne sank, der Himmel wandelte sich von Blutrot zu ein paar letzten malerischen Spritzern Burgunderrot, und mit Einbruch der Nacht gingen die Straßenlampen an. Wind kam auf und fegte durch die Straßen, wo nun die Rushhour fast vorbei war. Und ganz unerwartet huschte vor ihr ein Fuchs vorbei.
Erschrocken und gebannt sah sie ihm nach – die Beine wie im Fluge, wie ein beweglicher Dudelsack aus Haut und Knochen, das Fell fleckig vor Räude –, bis der Fuchs in einer Heckenlücke auf der anderen Straßenseite verschwand. Ihr Puls beruhigte sich langsam wieder, ihr Atem kehrte zurück. Stadtfüchse, die von Haushaltsabfällen lebten. Einst waren es nur einzelne gewesen, jetzt, wo ihre Zahl zunahm, wurden sie frecher. Wurde sie von jemandem verfolgt? Wer oder was lauerte da noch in den dunklen Ecken, welche Gestalten unter Kapuzen? Immer und immer wieder sagte sie sich, dass im Dunkel nur dann Killer lauerten, wenn ihre Phantasie sie dort hinstellte, aber sie zu leugnen vergrößerte nur ihre Zahl. Wenn man wusste, dass einen jeden Moment jemand umbringen könnte, war mit einem Schlag alles anders…
Klopf, klopf. Wer ist da? »Der Tod.« Was für ein – aargh!
Sie hatte das Gefühl, als sei der Tod ganz in der Nähe. Eigentlich war er überall. Und was für eine entsetzliche Vorstellung das war, dachte sie schließlich. Wer den wohl erfunden hatte? Den Kerl sollte man auf der Stelle erschießen.
Kurz bevor sie in ihre Straße einbog, zog sie an der Ecke die Burka aus. Sie betrat das Haus und hörte ihre Mutter in der Küche rumoren. Sie hätte es nicht ertragen, wenn sie jetzt irgendwelche Anschuldigungen zu hören bekommen hätte. Mit einem Gefühl, als wolle ihr Herz zerspringen, stieg sie die Treppe hinauf, kam aber dann doch wieder herunter. Zu aufgewühlt, um sich einfach in ihr Zimmer zu setzen, ging sie stattdessen ins Wohnzimmer, unschlüssig, was sie nun tun sollte, womit sie sich ablenken sollte, damit sie nicht andauernd irgendwelche Killer draußen vor dem Fenster sah oder das Mädchen, wie es in den Tod stürzte. Sie wollte einfach nur leben. Wollte nur, dass ihr keiner weh tat. Doch nun würde sie sich nie wieder sicher fühlen. Niemals. Vielleicht sollte sie wieder nach draußen gehen, einfach immer weitergehen, versuchen, schneller zu laufen als ihre Panik, ihre Wut, ihre Gedanken, die immer um dasselbe kreisten. Sie sollte versuchen, die Ängste zu besiegen, die sie selbst heraufbeschwor. Vielleicht fand sie ja etwas im Fernsehen, das ihre Stimmung aufhellte, eine alte Comedy-Serie. Der Fernseher lief bereits, und Zeki, der nirgends zu sehen war, hatte sein Wii-Spiel angelassen. Es war das Boxspiel, das er gern »sein Training« nannte.
Zwei virtuelle Boxer, praktisch noch Kinder, standen einander gegenüber, tänzelten auf der Stelle und warteten auf Anweisungen, einer in Blau, der andere in Rot. Im Hintergrund forderte ein grölendes Publikum den Beginn des Kampfes, und Azime griff ganz in Gedanken zu den beiden Controllern. Habe ich das verdient, fragte sie sich, diesen ganzen Ärger? Und was hat Banu getan oder das Mädchen, das jetzt auf dem kalten Friedhof liegt? Wo sind die Gesetze, nach denen so etwas bestraft
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