funny girl
ihr Handy konfisziert wird, alle ihre Bewegungen überwacht werden, als Monate vergehen, ohne dass die beiden in Kontakt sind. Ihre Gedanken blühen im Verborgenen, in Tagebüchern, Zeichnungen, SMS -Nachrichten, die sie in ihrer Phantasie versendet und empfängt. Fast ein Jahr vergeht, bis die Eltern meinen, es sei wieder sicher genug, sie in die Schule zu schicken, mit Schülern, die ein Jahr jünger sind als sie. Sie kauft sich ein billiges Telefon bei Tesco, stellt die Klingeltöne ab, versteckt es im aufgerissenen Futter ihrer Schultasche. Schreibt an Ricardo von der Schultoilette. Bekommt ihre erste Antwort seit einem ganzen Jahr. Er schreibt mit vielen Ausrufezeichen. Die Liebesgeschichte beginnt von neuem. Ricardo, der eine blühende Phantasie hat, schlägt vor, sie sollten gemeinsam fliehen, irgendwohin in die Berge, wo keiner sie jemals finden wird. Doch kaum stimmt sie zu, geht ihm auf, wie viel er sich da vorgenommen hat. Er zögert, von der Wirklichkeit eingeschüchtert, sieht sich gezwungen, seinen Plan zu ändern: Jetzt will er vor der Flucht erst noch etwas Geld verdienen. Sie müssen warten, drängt er, jetzt schon nicht mehr so begeistert. Doch sie ist anderer Meinung. Sie kann nicht warten. Ihr Vater würde schnell hinter die Beziehung kommen, und diesmal würde es wirklich schlimm für sie. Sie begreift, dass sie etwas tun muss, sie gerät in Panik, flieht von zu Hause in ein Frauenhaus und wartet derweil, dass Ricardo eine gute Arbeit findet. Gerade einmal vier Tage dauert es, bis ihre Eltern sie gefunden haben. Ihre Mutter überredet sie, nach Hause zu kommen, verspricht, eine Ehe mit Ricardo gutzuheißen, wenn das ihr Wunsch sei. Doch zu Hause angekommen, stellt sie fest, dass schon andere Vorkehrungen getroffen sind. Sie wird für eine Weile beim Bruder ihres Vaters wohnen. Dem Onkel ist ihre Umerziehung aufgetragen. Sie stellt fest, dass ihr Zimmer nur von außen zu verschließen ist. So beginnt ihr neues Leben. Der Onkel, ein Mann, dem die Eltern vertrauen können, hält sie in Gefangenschaft, will sie umprogrammieren. Sie isst in ihrem Zimmer. Geht unter Aufsicht zur Toilette. Sie hat keinen Zugang zum Telefon, darf nichts lesen; nach sieben Wochen kann sie fliehen und kommt zum IKWRO . Dort spricht sie in die Kamera, sie sei sicher, dass ihr Onkel aus eigenem Antrieb gehandelt habe, dass ihre Eltern dessen Erziehungsmethoden niemals gutgeheißen hätten. Sie ist überzeugt, wenn sie ihren Eltern davon erzählt, werden sie sie rächen und ihre Ehre wiederherstellen. Sie hat beschlossen – und zwar jetzt gleich, sobald diese Aussage aufgezeichnet ist –, ihren Eltern alles zu sagen, dafür zu sorgen, dass ihr Onkel für seine Untaten bestraft wird, und ihnen klarzumachen, dass sie Ricardo so schnell wie möglich heiraten will…
Der Bildschirm wurde schwarz, die Aufnahme war zu Ende. Azime nahm die DVD heraus, steckte sie wieder in die Plastikhülle. Sie legte sie auf den Tisch und ging, bevor Kamile von ihrer Kaffeepause zurück war.
In ihrer wehenden Burka, das Gesicht nun wieder vom Tuch verhüllt, bewegte sie sich durch die Massen, erntete kritische Blicke, nur halb geduldet auf den Bürgersteigen dieser Stadt, halb verachtet. Es war ein langer Fußmarsch, aber sie brauchte Zeit, damit sie die letzten Puzzleteile an Ort und Stelle bringen konnte. Zunächst einmal musste sie nun annehmen, dass die Liebesaffäre mit einem Nicht-Muslim zusammen mit der Tatsache, dass sie ihre Gefangenschaft den Behörden bekanntgemacht hatte, das Schicksal des Mädchens besiegelt hatte. Nach diesem doppelten Verstoß hatte ihre Familie gehandelt, und zwar schnell. Da ihnen aber keine einfache Lösung offenstand, hatten sie ihre Tochter vom Balkon des achten Stocks gestoßen, womit das Problem zumindest teilweise gelöst war. Eltern, die ihr eigenes Kind umbrachten! Abscheulich! Entsetzlich!
Azime wollte verhindern, dass vor ihrem inneren Auge immer wieder die letzten Augenblicke des Mädchens abliefen: dieses tapfere, scheue, leidenschaftliche Mädchen mit der sanften Stimme, ein Mädchen, dessen Namen sich keiner gemerkt hatte, ein freundliches, sanftmütiges Herz, ein Mädchen, auf das, zusammen mit ihrem Liebsten, das verschneite Refugium in den Bergen gewartet hatte; wie das Mädchen gestürzt war, tiefer, tiefer, wie sie geschrien hatte, als der Betonplatz auf sie zugeflogen kam und sie mit seinen alles auslöschenden Armen empfangen hatte.
Frage: Herr Doktor, wie viele Autopsien haben Sie schon
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