funny girl
keine so heftigen Reaktionen. Aber nur du, Azime, du allein kannst beurteilen, ob es die Risiken, die du eingehst, wert ist. Es sind deine Worte, dein Körper, dein Leben – du musst die möglichen Folgen abwägen, wenn du in der Öffentlichkeit stehst und deine Meinung sagst.«
»Und wie entscheide ich, ob das, was ich sage, wert ist, dass ich dafür meine persönliche Sicherheit riskiere?«
»Sachen sind nur in Ordnung, wenn es in Ordnung ist, dass man darüber redet.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ob etwas in Ordnung ist, erkennt man daran, ob es erlaubt ist, darüber zu reden. Wenn es nicht mehr gefährlich ist, über etwas zu reden, dann ist das Werk getan. Dann ist die Zivilisation ein kleines Stückchen vorangekommen. Daran erkennt man es. Und da es für dich ja offenbar mit Risiken verbunden ist, über das zu reden, worüber du reden willst, ist es wohl notwendig, dass noch eine Menge Riskantes gesagt wird. Richtig?«
Azime nickte. »Und wird es mich glücklich machen, wenn ich das tue?«
Kirsten lächelte. »Also das bezweifle ich. Glücklich? Nein, glücklich ist etwas anderes. Du redest, weil du reden musst. Die meisten Leute halten dagegen den Mund, weil sie das können. «
»Wow.«
»Deshalb mache ich diesen Kurs hier. Ich mache das nicht, weil ich damit glücklich werden will. Ich brauche es, dass ich meine eigene Stimme höre und dass andere sie hören. Es ist eine Krankheit. Dieser Kurs ist eine unverfängliche Möglichkeit für mich, stabiler, normaler zu werden. Dass ich meine Meinung sage, dass ich mir Witze ausdenke, ist eine Art Medizin, die ich mir selbst verabreiche. Wenn ich damit aufhöre, ist mir elend, ich bin durcheinander, niedergeschlagen.«
»Du? Durcheinander? Niemals.«
»Ich will dir mal was sagen, Azime. Es gibt verdammt wenig Gründe dafür, dass man seine Meinung sagt, dass man das Leben klar sieht, mit Intelligenz, mit dreihundertsechzig Grad Rundumsicht. Wenn du glücklich sein willst, einfach nur zufrieden, dann ist es besser, wenn du engstirnig bist, mit Tunnelblick, ganz auf das konzentriert, von dem du sicher bist, dass es dich froh macht, auf alles, was beruhigend und vorhersagbar ist, und wenn du so wenig wie möglich sagst. Wenn du den Blick schweifen lässt, wenn du alles in Frage stellst, aufgeschlossen bleibst, beide Seiten eines Problems siehst, sagst, was du denkst, dann bist du oft wütend.«
Ja! Wütend! Genau so fühlte Azime sich. Wütend darüber, was mit ihrem Leben geschehen war, darüber, dass jemand, der so friedlich war wie sie, so ehrlich und anständig wie sie, gefährliche Feinde hatte, finstere Rächer mit Namen wie Medhi77 und Salim86 729, Phantome, Briefschreiber, Tweeter, Blogger, Hashtag-Terroristen, die auf andere Menschen lähmend wirkten und sie in Angst und Schrecken versetzten, Nichtsnutze, die diejenigen, die zu etwas nutze sein wollten und konnten, aufzuhalten versuchten! Und sie war auch wütend auf Banu und auf ihre tote Freundin; wütend, weil sie unterlegen waren oder nicht einmal versuchten, sich zu wehren, weil sie sich damit abgefunden hatten zu unterliegen.
Azime sah jetzt, dass sie tatsächlich einen inneren Drang hatte zu sagen, was sie dachte. In ihrem jetzigen Zustand war sie verloren. So viel stand fest.
»Ich soll also weitermachen? Das rätst du mir?«
»Tue ich das?«
»Auch wenn Leute es schon als Kränkung empfinden, wenn ich nur auf der Bühne stehe?«
»Findest du nicht, du hast ein Recht, auf der Bühne zu stehen?«
»Ich sollte also nicht aufgeben?«
Kirsten nickte und zeigte ihr strahlendstes Lächeln. »Das wäre schön.«
13
Die Erwachsenen nannten es Eid al-Fitr, das Fest des Fastenbrechens, aber für die Kinder des Viertels, die von Tür zu Tür liefen, anklopften und um Süßigkeiten bettelten, war es Şeker Bayramı, das Zuckerfest. Wenn die Tür sich öffnete – und das Opfer Türke oder Kurde war –, dann riefen die Kinder iyi bayramlar oder bayramınız kutlu oder mübarek olsun, und der Nachbar antwortete mit der gleichen Wendung und drückte ihnen Schokolade, Süßigkeiten, türkischen Honig oder sogar ein paar Münzen in die erwartungsvoll geöffneten Hände. Dann liefen die Kinder wieder auf die Straße, versammelten sich, begutachteten ihre Beute.
Der große Tag hatte in Green Lanes schon früh am Morgen begonnen, mit der Radioübertragung des feierlichen Donners, mit dem die Kanone auf den hohen Festungsmauern der türkischen Stadt Alanya abgefeuert wurde – das Zeichen, dass
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