funny girl
jetzt einfach mal nach draußen und hole sie mir.«
Azime verstand nicht sofort. Ihr verdutztes Gesicht zwang Kamile, deutlicher zu werden.
»Da drüben steht ein Fernseher, und das darunter ist ein DVD -Player. Sie schalten den Fernseher ein, dann den DVD -Player, drücken auf Play. Sie wissen, wie man einen DVD -Player bedient?«
Azime nickte.
»Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen zu helfen, aber ich mache mir jetzt eine Tasse Kaffee. Das dauert eine Viertelstunde. Haben Sie verstanden? Haben Sie verstanden, dass ich Ihnen nicht helfen darf? Fünfzehn Minuten.«
Kamile ging nach draußen. Und unversehens fand sich Azime, wie das tote Mädchen einige Zeit vor ihr, allein in diesem limonengrünen Raum.
Der Bildschirm erwachte zum Leben. Und da war sie. Die dunkelbraunen Mandelaugen, das herzförmige Gesicht, das sie seit ihrem ersten Schultag kannte, als die Lehrerin ihren Namen mit energischen Kreidestrichen an die Tafel geschrieben und zweimal unterstrichen hatte, als ob sie sagen wollte: Merkt euch den. Doch statt dass ihre Mitschüler sich den Namen gemerkt hatten, war sie bald nur noch das neue Mädchen, das neue Muslimmädchen, die Neue mit dem Schleier, das stille Mädchen, die Maus, die, die keinen Mucks von sich gibt, die Streberin, die immer die Hausaufgaben gemacht hatte, und um die acht Buchstaben ihres Namens kümmerte sich keiner oder verwendete einen dieser Spitznamen. Sie war das Mädchen, das dadurch auffiel, dass sie nie auffiel. »Ach«, sagte dann plötzlich jemand und schnippte mit den Fingern, »jetzt weiß ich, wen du meinst.«
Mit klopfendem Herzen betrachtete Azime das körnige Bild dieses Mädchens, wie es auf einem Stuhl in dem leeren Raum saß, in dem sie jetzt saß. Ihr fiel auf, dass das Mädchen die Videokamera wie einen Inquisitor behandelte, dem in die Augen zu schauen sie sich nicht traute, aus Angst, sie würde für etwas angeschuldigt, was sie nicht getan hatte. Stockend erzählte sie ihre stille Geschichte: Wie ihre Familie vor dem irakisch-kurdischen Krieg geflohen war, wie sie mit drei Jahren zuerst nach Deutschland gekommen war, und dann hatte die Geschichte ihr ein Jahr später einen neuen Platz in Großbritannien angewiesen. Schließlich war sie, nachdem man sie aus einer Schule nach der anderen gerissen hatte, Teil von Azimes Welt geworden. Azime erinnerte sich noch gut an den Tag, als das Mädchen der Klasse vorgestellt wurde. Sie trug ein blaues Kopftuch und ein unattraktives bodenlanges Gewand, das für Gekicher sorgte, denn außer den erbärmlich zarten Arm- und Fußgelenken war nichts von ihr zu sehen. In diesen ersten Wochen wechselten Azime und das Mädchen ein paar Worte auf dem Schulhof, zwei Mädchen mit zu dünner Haut. Das war für das verschüchterte Mädchen genug gewesen, um Azime als ihre einzige Freundin anzusehen ...
Als Azime sich die Aufnahme anschaute und die schmerzliche Anthologie von Ereignissen verfolgte, die das Mädchen für notwendig zum Verständnis ihrer Geschichte gehalten hatte, stellten sich ihre eigenen Erinnerungen an sie wieder ein, die schüchterne Stimme erwachte wieder zum Leben, eine unauslöschliche Erinnerung, die Stimme, derentwegen Azime sich überhaupt erst auf dem Schulhof nach ihr umgedreht hatte. Und dann hatte sie in zwei traurige Augen geblickt, die um Freundschaft baten – wie die zwei Kreidestriche auf der Wandtafel unter ihrem Namen hatten Stimme und Augen die Bitte unterstrichen, jemand zu sein, den man kannte, an den man sich erinnerte.
Nachdem sie diesen biographischen Rahmen abgesteckt hatte, begann das tote Mädchen mit dem Bericht, erzählte die Liebesgeschichte zwischen ihr und einem Jungen namens Ricardo, eine heimliche Liebe, die hauptsächlich aus dem Austausch von SMS bestand, oft in einer Geheimsprache, die selbst die Beteiligten nicht ganz verstanden, die aber doch das Muster für eine kurze, heftige Beziehung gewesen war…
Der Junge, Ricardo, kommt aus einer italienischen Familie. Er ist genauso schüchtern und verängstigt wie sie und weiß, dass er niemandem von ihrer Liebe erzählen darf und um ihret- wie auch um seinetwillen in jeder Hinsicht vorsichtig sein muss. Sie warnt ihn, dass mit ihrem Vater nicht zu spaßen ist. Doch dann – die Katastrophe. Ihr Bruder entdeckt ihr Geheimnis. Sieht sie im Café, wie sie vertraulich miteinander reden, Händchen halten. Erzählt es dem Vater, der sie in seiner Wut von der Schule nimmt. Doch noch immer will sie nicht von Ricardo lassen, selbst als
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