Furchtbar lieb
Flur, stellte die kaputte Tür wieder in ihre wackligeaufrechte Position und ließ mich mit meinem ruinierten, leeren Scheißleben zurück.
***
Es dauerte vermutlich mehrere Stunden, ehe ich mich vom Fußboden kratzte und ins Wohnzimmer ging. Verständnislos starrte ich die Fotos auf meinem Kaminsims an – Sarah und Kyle in der Universitätskapelle; meine Eltern, die lächelnd in den Pyrenäen wanderten; Robbie in seinem Bettchen im Queen Mother’s Hospital. Dinge in meinem Leben, die sicher erschienen waren. Dinge, die nicht mehr existierten.
Aus welchem Grund sollte ich zuerst durchdrehen?
Weil ich Sarah umgebracht hatte?
Weil ich Robbie verloren hatte?
Chas?
Kyle? Der fuhr mit einer Säge und Messern und mehreren großen Müllsäcken im Kofferraum in Richtung Norden. Er würde mir lieber Ja simsen, um zu sagen, dass sein Werk vollendet sei, als mich jemals wiederzusehen. Fürs Erste blieb mir also nichts weiter zu tun, als auf das Piep-Piep zu warten.
Und dann fiel mir ein, dass ich mein Telefon nicht wieder aufgeladen hatte. Ich schloss es an und wartete darauf, dass es zum Leben erwachte, und als es so weit war, sah ich, dass ich nur einen Anruf verpasst hatte – nicht von der Polizei und auch nicht von Kyle, sondern von meinen Eltern.
Ich schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr früh. Kyle musste inzwischen fertig sein. Er hatte Sarahs Leiche in Stücke gehackt und sie in die unschuldigen schwarzen Säcke gesteckt.
Herr im Himmel, er musste damit aufhören. Er musste damit aufhören. Ich rief ihn an, aber er ging nicht dran. Ich versuchte es wieder und wieder. »Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar«, leierte eine Stimme vom Band. »Sie haben jedoch die Möglichkeit …«
Ich fasste einen Entschluss. Mit oder ohne Kyles Zustimmung würde ich duschen, mich anziehen und mich für einGeständnis in der Drumgoyne Police Station bereitmachen. Robbie wäre bei meinen Eltern besser aufgehoben.
Ich sah mich ein letztes Mal in meinem Wohnzimmer um. Überall gab es Hinweise auf ein glückliches Leben – das Baby Gym, Dekorationsstücke aus Urlauben in Spanien und Italien, ein Foto meiner Eltern auf ihrer Hochzeit, das Foto von meiner Taufe, Chas, Kyle und ich an der Uni, Sarah und ich auf ihrer Hochzeit, ich und Robbie auf der Schaukel im Garten meiner Eltern. Als ich mich unter diesen Relikten einer glücklichen Vergangenheit umsah, wurde mir klar, dass mir das beste Leben geschenkt worden war, das ein Mensch haben kann.
Deshalb wollte ich, als ich dort saß und die Dekorationsstücke betrachtete und über mein wundervolles Leben nachdachte, vor allem eines wissen: Wie hatte ich es nur geschafft, dieses Leben so schrecklich zu vermasseln?
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Kapitel siebenundzwanzig
Chas hätte Krissie die Antwort auf ihre Frage geben können. Er wusste sie.
Er saß auf der Treppe vor der Tür zu Krissies Wohnung, wartete darauf, dass sie sich beruhigte, und unterzog seine Entschuldigung und seinen Plan einer Revision. Er konnte einfach nicht glauben, dass er in so kurzer Zeit so viel Schaden angerichtet hatte, und er hasste sich dafür, denn mehr als jeder andere wusste er, dass Krissie keine Probleme brauchte, sondern Fürsorge.
Nachdem Chas sich entschlossen hatte, sein Medizinstudium aufzugeben, waren bei seinen Eltern die Sicherungen durchgebrannt. Seine Schwester, die damals als Rechtsanwältin in Edinburgh arbeitete, war gekommen und hatte versucht, ihm sein Vorhaben auszureden, aber er hörte ihr nicht zu. Sahen sie denn nicht, dass dieser Schritt genau das Richtige für ihn war? Er sagte ihnen, dass er die Welt sehen wolle. Er wolle kreativ sein. Schreiben oder malen? Er war sich noch nicht sicher. Alles, was er wusste, war, dass er kein Arzt werden wollte. Er wollte nicht im Geld schwimmen. Er wollte keine Mitgliedschaft im Golfklub, keine Immobilie als Geldanlage und keinen Mercedes. Er musste die Dinge sehen und fühlen und alles ausprobieren, was er ausprobieren konnte, und dann konnte er vielleicht nach Hause zurückkehren – aber nicht, ehe er sich nicht wirklich selbst erfahren hatte.
Kyle war sogar noch schlimmer als seine Familie. »Was für eine Zeitverschwendung. Was für eine Drückebergerei«, sagte er.
Aber Krissies Mutter Anna hatte sich genauso verhalten, wieer es sich von anderen erhofft hatte. Sie war mit einer Flasche Wein und mehreren Tüten Chips bei ihm aufgekreuzt und hatte im Erker die Bar eröffnet.
»Weißt du, Chas, manche Menschen haben schlichtweg Angst vor den
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