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Furchtbar lieb

Furchtbar lieb

Titel: Furchtbar lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen FitzGerald
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sie konnte sich nicht bewegen, nichts sehen und war außerstande, mit ihrem zerschnittenen und geschwollenen Mund längere Zeit zu schreien – war sie immer noch eine Meisterin der Panik.
    »Ich werde sterben, ich werde sterben, ich werde sterben.« Sie sagte es immer und immer wieder, mindestens zwei Stunden lang.
    Natürlich hatte sie viel Übung darin. Seit dem Alter von sechs Jahren hatte sie regelmäßig Panikattacken gehabt. Sie waren üblicherweise dadurch ausgelöst worden, dass sie in engen Räumen eingesperrt worden war. Zum ersten Mal war ihr das bei der Feier zu Marie Johnstons sechstem Geburtstag aufgefallen, als sie beim Versteckspiel auf den Dachboden von Maries Elternhaus lief und sich durch eine kleine Tür in einendunklen Dachvorsprung zwängte. Sie kicherte einige Sekunden lang, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, ehe sie bemerkte, wie dunkel und staubig dieser Ort war, und sich entschloss, schnellstmöglich abzuhauen. Nur, dass das nicht ging. Denn Marie und ihr Bruder Willie hielten die Tür zu.
    »Lasst mich raus«, schrie sie.
    Aber sie dachten gar nicht daran. Sie fanden es lustig. Und Sarah erlebte etwas, das kein sechsjähriges Mädchen erleben sollte. Sie dachte allen Ernstes, dass sie sterben werde.
    Schließlich ging Maries Mutter auf den Dachboden, um nachzusehen, was es mit dem Gekicher auf sich hatte. Als sie die Tür öffnete, sah sie sich einer heftig schwitzenden Sarah gegenüber, die sich vor und zurück wiegte und in monotonem Singsang »Ich werde sterben, ich werde sterben. Ich werde sterben« deklamierte.
    Von da an achtete Sarah darauf, dass sie in jeder Situation einen Fluchtweg ausfindig machte. Im Kino saß sie hinten am Gang. Sie fuhr nie mit dem Fahrstuhl, saß nie hinten im Bus, benutzte nie die U-Bahn und verbrachte die ersten Minuten, wenn sie irgendwo zum ersten Mal hinkam, mit dem Auskundschaften der Ausgänge.
    Als sie ein paar Nächte zuvor am See »Stell dich« gespielt hatten, war Krissie und Kyle nicht klar gewesen, dass der Schlafsack kein Problem für Sarah darstellte. Sie hatte den Reißverschluss in der Hand. Um herauszukommen, musste sie nur daran ziehen. Während der fünfzehn Minuten in diesem Schlafsack glaubte sie keinen Moment, sterben zu müssen. Es gab einen Notausgang.
    Das Problem mit den geschlossenen Räumen war in einer ihrer Therapiesitzungen zur Sprache gekommen. Aber die Therapeutin hatte nicht geglaubt, dass es auf dem Dachboden in Marie Johnstons Elternhaus angefangen habe, vor allem nachdem Sarah zugegeben hatte, dass sie damals schon seit einem Jahr ähnliche Ängste gehabt habe.
    Die Therapeutin glaubte, es habe bei ihr zuhause angefangen, und sie widmete die nächsten Sitzungen dem Versuch, dieWahrheit über Sarahs Kindheit Stück für Stück aus ihr herauszubekommen.
    Aber Sarah hielt stand.
    Na gut, ihre Mutter war immer weg gewesen, als sie klein gewesen war. Aber sie hatte jeden Abend vor dem Schlafengehen angerufen.
    Na gut, ihr Vater trank ein bisschen viel, aber dann war er ja gegangen.
    Na gut, ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie fünf gewesen war, aber Sarah hatte ihren neuen Stiefvater geliebt. Er war Filmproduzent, er machte den weltbesten Kakao mit Marshmallows, und er hatte ihr ein signiertes Poster von Mel Gibson geschenkt.
    Alles nicht der Rede wert. Eine ganz normale, verkorkste Familie wie alle anderen auch.
    Überhaupt nicht der Rede wert.
    ***
    Nach ihrem ersten Anfall von Wut und Panik in der Felsspalte hatte Sarah wieder das Bewusstsein verloren.
    Als sie erneut erwachte, war sie sich nicht sicher, ob sie ihre Augen geöffnet hatte oder nicht, denn was auch immer sie mit ihren Augenlidern anstellte, es blieb dunkel. Es dauerte einige Zeit, bis sie die schreckliche Wahrheit begriff, und dann war sie außerstande, nicht wieder hysterisch zu werden. Sie war so fest eingewickelt, dass sie weder ihre Hand noch ihre Füße noch irgendeinen anderen Teil ihres Körpers bewegen konnte. Die Spalte, in der sie lag, war so eng, dass ihre Nase den Fels über ihr berührte – feuchten, kalten Fels. Ihre Beine waren zur Seite gebogen, so dass ihre Hüfte wie verrückt wehtat, und in ihren Schultern tobte der Schmerz.
    Sie war lebendig begraben, und sie würde sterben. Jedes Organ schaltete die höchste Alarmstufe ein, Adrenalin attackierte jedes Glied mit dem verzweifelten Ruf, ETWAS ZU tun. Aber sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nichts tun, und sosummte das Adrenalin durch ihre Adern, wie eine Biene im

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