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Furor

Furor

Titel: Furor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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ein, ein Harvard-Professor, der darüber forschte, wieso Menschen unweigerlich an weiße Bären dachten, wenn sie aufgefordert wurden, nicht an weiße Bären zu denken. Plötzlich dachte Sebastian an weiße Bären.
    Dann setzte sich eine junge Frau auf den Platz vor ihm. Frau? Mädchen? Wann war ein Mädchen eine junge Frau? Im Nu hatte sie jedenfalls die weißen Bären vertrieben.
    Zuerst konnte er sie nur von hinten sehen. Dann schaute sie aus dem Fenster und bot ihm ihr Profil. Außerdem spiegelte sich ihr Gesicht in der Scheibe. Durch das Bild jagten die Häuserfronten, an denen der Bus vorbeifuhr. Trotzdem konnte Sebastian genug erkennen, um festzustellen, dass ihm gefiel, was er sah. Hätte er spontan Charaktereigenschaften zuordnen sollen, so hätte er gesagt: offen, ehrlich und sympathisch. Natürlich war das ein Blödsinn und die Physiognomik mit Johann Caspar Lavater mehr oder weniger ausgestorben. Dem einen wuchs die Nase gerade, dem anderen krumm. Und manch einer hatte das Pech, dass er schon böse ausschaute, wenn er nur traurig war. Aber die Frau vor ihm hatte nicht nur in dieser Hinsicht Glück gehabt. Ihr langes, lockiges Haar war dunkelblond mit einem Stich Kupfer. Er musste sich zusammenreißen, um nicht hineinzugreifen und es sich durch die Finger gleiten zu lassen. Sicher würde es fließen wie warmes Wasser. Er spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen,löste die Augen mit einiger Mühe von ihrem Haar und belohnte sich für die Anstrengung mit einem erneuten Blick auf ihr Spiegelbild. Zunächst konzentrierte er sich auf ihren Mund. Er war nicht groß und nicht klein, die Lippen formten einen nahezu perfekten Schmollmund. Darüber eine Nase, die gerade groß und dabei schmal genug war, um ihrem Gesicht ein Profil zu geben, das nicht allein von den Lippen dominiert wurde. Das war Harmonie, kein bloßes Nebeneinander. Ihre Augen waren groß, das betonte sie noch mit einem Lidstrich. In ihrer Ahnenreihe gab es mit Sicherheit mindestens einen Asiaten, darauf deutete der Schwung ihrer Lider und der Jochbeine. Die Brauen bildeten zwei hohe Bögen über den Augen, was ihrem Blick einen leicht staunenden Ausdruck verlieh. Die Locken hingen ihr in die Stirn und verdeckten halb das Band, das sie um den Kopf gebunden hatte.
    Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch beugte Sebastian sich vor, bis er von ihrem Kopf nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Er war versucht, sie zu berühren, stellte sich vor, ihr über die glatte Wange zu streichen, den Linien ihres Gesichtes sanft mit den Fingern zu folgen.
    Sie war so verdammt nah, doch wo blieb das Zauberwort – das Wort, mit dem man eine Frau ansprechen konnte, ohne plump und aufdringlich zu wirken, aber doch interessant genug, dass sie sich auf ein Gespräch einlassen würde. Warum war dieses Wort so verdammt schwer zu finden?
    Er vertiefte sich in den Anblick der feinen Härchen auf ihrer Schläfe, ein zarter Flaum, der sich unter dem Ohr den Hals hinunter fortsetzte. Im Ohrläppchen steckte ein einfacher goldener Ring, der durch seine Schlichtheit ihre Schönheit betonte. Modeschmuck oder Platin und Titan hätten dagegen gewirkt wie ein Pop-Art-Rahmen um ein Bild von Tizian. Ein kleiner goldener Ohrring, wie die Zigeuner oder Piraten . . . Plötzlichbemerkte er eine kleine Veränderung ihres Bildes in der Scheibe. Sie lächelte ihn an.
    Er spürte, wie ihm das Blut mit Hochdruck ins Gesicht schoss und dort sämtliche Kapillaren zu sprengen versuchte, während er rasch den Blick abwandte. Er hatte sie doch nicht angestarrt? Überhaupt saß er gar nicht hier. Er war gerade im Boden versunken. Ein Gedanke schoss ihm durchs Hirn: Vielleicht gab es ja gar kein Zauberwort. Vielleicht reichte es schon, nicht so zu tun, als existiere man nicht oder als existiere der andere nicht. Vielleicht war es einfach so, dass man den Blick im richtigen Augenblick erwidern musste.
    Als er endlich wieder den Mut fand, hochzuschauen, war ihr Spiegelbild verschwunden. Dafür ging sie gerade am Bus vorbei und lächelte – in seine Richtung? Sie sah jedenfalls ungefähr in seine Richtung und . . . hob die Rechte, um sich lächelnd mit dem Zeigefinger an einen imaginären Hutrand zu tippen. Während der Bus anfuhr, sah Sebastian sich verwirrt um. Niemand sonst außer ihm schien die junge Frau registriert zu haben, die jetzt den Sendlinger-Tor-Platz überquerte. Hatte sie tatsächlich ihn gemeint? Ein verführerischer Gedanke kroch aus den Tiefen seines die Gefühle kontrollierenden

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