Furor
sollte, muss ich wahrscheinlich nicht erklären, oder?« Sie lächelte ihm hinterher, als er den Kaffee holen ging.
Während er an der Theke stand und den Kaffee zapfte, betrachtete er die Journalistin. Sie saß mit übereinander geschlagenen Beinen am Tisch und kramte in ihrer Tasche. Das kupferstichige Haar fiel wild über den hochgeschlagenen Kragen ihrer Lederjacke. Offensichtlich hatte sie sich beim Kämmen keine besondere Mühe gegeben. Die Lederjacke gefiel ihm, die hätte er auch sofort gekauft. Ziemlich alt, braun und für die Frau etwas zu groß. Darunter trug sie eine schwarze Bluse, dazu Jeans und an den Füßen halbhohe Stiefel. Sie wirkte jetzt älter als vorhin im Bus. Sebastian schätzte sie auf fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Als sie zu ihm herüberschaute, fühlte er sich ertappt. Aber wieder gelang ihm ein souveränes Lächeln auf dem Weg zu ihrem Platz. Sie nahm ihm die Tasse ab und bedankte sich.
»Also, wie ich schon am Telefon gesagt habe, ich arbeite für die ›Rundschau‹ und möchte gern ein Stück über die Arbeit hier am Institut schreiben. Für die Wissenschaftsseite. Und ich habe mir gedacht, ich frage jemanden, der sich hier auskennt, aber noch nicht so lange im Geschäft ist, dass er nur noch Fachchinesisch quatscht.«
Sebastian nickte.
Sie nahm ein Diktiergerät aus der Tasche.
»Stört es Sie, wenn ich unser Gespräch aufnehme?«, fragte sie.
»Ich muss es mir ja nicht anhören, oder?«, fragte er zurück.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Erste Frage: Müssen wir uns siezen?«
»Nein, meinetwegen nicht.«
Aus der Nähe bemerkte Sebastian, dass ihre Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, dunkler waren als ihr Haar. Ihr Gesicht bekam dadurch einen sehr energischen Ausdruck. »Wir müssen ziemlich weit vorn anfangen, fürchte ich«, fuhr sie fort. Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Von vorn betrachtet passte ihre Nase nicht mehr so gut zum Mund und den Augenbrauen, was ihrer Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Ihr Lidstrich war etwas verwischt.
»Also los«, meinte sie, und schaltete das Diktiergerät ein, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Erzähl doch mal, um was es bei der Arbeit hier am Institut überhaupt geht.«
Wo sollte er anfangen, überlegte Sebastian. Grundkurs in Neurophysiologie? Sie schaute ihn erwartungsvoll an. Ihm kam der Verdacht, dass sie vielleicht weniger auf das gespannt war, was er sagen würde, als vielmehr, wie er sich schlagen würde. Ob er überhaupt etwas Interessantes zu erzählen hatte. Aber das war vermutlich nur eine Projektion. Schließlich waren das seine Ängste. Er wollte einen Schluck Kaffee nehmen. Als er die Tasse hob, fielen Tropfen auf den Tisch, da auf seiner Untertasse Überschwemmung herrschte. Einige landeten auf dem Aufnahmegerät.
»Scheiße«, fluchte er und setzte die Tasse ab, um mit einer Serviette das Gerät zu trocknen. »Ein fantastischer Anfang für deinen Artikel: ›Scheiße‹, sagt Sebastian Raabe, Sohn des berühmten Hirnforschers Christian Raabe, während er in der Cafeteria des renommierten Instituts . . .« Sie lachte.
»Tja«, versuchte er es noch einmal. Schon besser. Das konnte sie vielleicht sogar als Schlagzeile benutzen. Tja. Toll, gleich bricht dir noch der Schweiß aus, dachte Sebastian. Hyperventilierst du nicht auch schon ein wenig? Die Journalistin beobachtete ihn, zeigte jedoch keine Reaktion.
»Also, zwei Dinge stehen bei der Forschung hier am Institutim Vordergrund«, begann Sebastian noch einmal. »Einerseits sucht man nach der Grundlage der Persönlichkeit. Nach den Strukturen und den Struktur-Unterschieden, die hinter verschiedenen Persönlichkeits- und Charaktereigenschaften stehen. Der zweite Bereich behandelt Lernen, Gedächtnis, Erinnerung. Das ist der für dieses Institut wichtigere Bereich. Du hast vermutlich davon gehört, dass hier, an diesem Institut, der Durchbruch geschafft wurde: Erinnerungen von Menschen außerhalb des Körpers aufzunehmen. Das ist doch das Thema, über das wir hier sprechen wollen, oder?«
Sie nickte.
»Die Anfänge der Forschung, die später an diesem Institut betrieben wird, liegen in den fünfziger und sechziger Jahren. Damals hat in Kanada ein Chirurg Patienten am Gehirn operiert, die unter epileptischen Anfällen litten und bei denen Halluzinationen auftraten. Der Arzt hieß Wilder Penfield. Nach ihm ist auch das Institut benannt.«
»Anfälle mit Halluzinationen?«, fragte Sareah. »Wie muss ich mir das vorstellen?«
»Oh,
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