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Furor

Furor

Titel: Furor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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vielleicht als eine Art Visionen. Es gibt Vermutungen, dass zum Beispiel die Visionen der Heiligen Hildegard von Bingen auf solche Epilepsieanfälle zurückgehen, oder die alttestamentarischen Prophezeiungen und die Offenbarung des Johannes. Dann hat man herausgefunden, dass dabei auch das Gedächtnis eine Rolle spielen könnte. Das war 1888, als Epilepsie-Patienten dem Amerikaner Hughling Jackson erzählten, die Visionen während ihrer Anfälle seien nichts anderes als Bilder aus ihrer Vergangenheit.«
    Sie strich sich ein paar Locken aus der Stirn. Verdammt, konzentrier dich, Junge.
    »Penfield und ein Kollege, der auf den schönen Namen Phanor Perot gehört hat, haben die Großhirnrinde von Epileptikern mit leichten Stromstößen stimuliert, die während der Operationfreigelegt war. Das Gehirn ist schmerzunempfindlich, so dass Eingriffe unter örtlicher Betäubung stattfinden können. Die Patienten waren also bei vollem Bewusstsein, während ihnen der Schädel geöffnet wurde . . . Hey, was ist los?«
    Sareah hatte gerade einen Schluck Kaffee genommen – oder es zumindest versucht. Sie hustete aus vollem Halse. Mit rotem Gesicht und tränenden Augen fragte sie dann: »Habe ich das richtig verstanden? Die Operationen am Gehirn fanden ohne Narkose statt?«
    »Ja. Das ist üblich. Die Bereiche der Kopfhaut, in denen der Schädel geöffnet wird, werden mit Novocain betäubt.«
    Sie schluckte. »Ich stelle mir das mal vor«, sagte sie. »Da lässt sich also jemand auf den Operationstisch legen, bekommt eine Spritze in die Kopfhaut, schaut dann zu, wie der Arzt das Skalpell zückt und schneidet. Er spürt wahrscheinlich das Ziehen, wenn die Kopfhaut weggeklappt wird, sieht, wie der Arzt die Säge nimmt, hört, wie die Säge den Schädelknochen aufsägt, und spürt vermutlich die Vibrationen. Dann, bevor sie ihm ein Stück Gehirn rausschneiden, fängt einer der Kerle auch noch an, seine Großhirnrinde unter Strom zu setzen? Freiwillig? Das ist doch der Wahnsinn.« Sie war jetzt nicht mehr rot, sondern eher etwas blass um die Nase. Und sie hatte ihn verunsichert. Er hatte Bilder von den Operationen gesehen. Aber bisher hatte er sich nie in die Patienten hineinversetzt. Auf den Bildern schienen sie immer ganz gefasst.
    »Klingt ein bisschen eklig, was?«, fragte er.
    »Eklig und kaum vorstellbar.«
    Wollte sie damit andeuten, die Chirurgen hätten die Patienten zur Lokalanästhesie gezwungen, nachdem sie aus niederen Instinkten heraus im Namen der Forschung irgendwie die Erlaubnis erpresst hatten, sie schlachten zu dürfen?
    »Es war damals – und ist auch heute noch – nicht ungefährlich, jemanden unter Vollnarkose zu setzen. Früher sind dabeiviele Patienten nicht mehr aufgewacht. Und, wie gesagt, das Gehirn ist schmerzunempfindlich. Die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt wird ja auch nicht unter Vollnarkose durchgeführt, obwohl du es da ordentlich knacken hörst. Außerdem lagen die Patienten so, dass sie den Arzt nicht sehen konnten. Ein Assistent unterhielt sich mit ihnen, und sie mussten zum Beispiel Texte vorlesen. Die Reizung der Hirnrinde findet übrigens deshalb statt, weil man genau feststellen will, wo die Sprachzentren und andere wichtige Bereiche liegen, von denen man möglichst nichts wegschneiden will. Wenn die Elektroden beispielsweise auf die Sprachzentren stoßen, dann können die Patienten mit einem Male nicht mehr reden. Das läuft heute noch genauso.«
    Sie schien noch immer nicht überzeugt, dass alles mit rechten Dingen zuging. Musste er jetzt als Verteidiger der Hirnchirurgie auftreten? Er sollte ihr doch nur erklären, was hier am Institut geschah. Ihre Reaktion enttäuschte ihn. Und die Vorstellung, sie könnte ihn für einen gefühllosen Klotz halten, gefiel ihm gar nicht.
    »Ich kann mir schon vorstellen, dass einen diese Vorstellung befremdet. Aber die Patienten empfinden diese Operation offenbar nicht als schlimm. Und Penfield stimulierte die Großhirnrinde mit winzigen Stromimpulsen.«
    Sebastian holte ein Heft aus der Jackentasche, schlug eine Seite auf und zeigte sie ihr. »Das ist ein Artikel von Penfield und Perot in der Zeitschrift ›Brain‹ aus dem Jahr 1963«, erklärte er.
    Zwei Fotos waren zu sehen. Auf dem einen war der Kopf einer jungen Frau abgebildet, kahl rasiert, auf die Kopfhaut hatte jemand Linien gezeichnet. Das zweite Bild zeigte die freigelegte Großhirnrinde. Der Frau hatte man offensichtlich die halbe Schädeldecke abgehoben.
    »Bei der Stimulation bestimmter

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