Furor
großen Brüdern aufgewachsen. Sebastian hätte diese Hand gern an den Mund geführt und geküsst, mit ihren Fingern gespielt . . .
Sareah rauschte davon. Er sah ihr nach und hoffte vergeblich, dass sie sich noch einmal umdrehen würde.
Blödmann, schimpfte er sich selbst. Hatte er wenigstens fachlich halbwegs geglänzt? Hatte er ihr etwas von der Faszination vermitteln können, die für ihn von dem Institut ausging? Dazu musste man wohl erst einmal grundsätzlich gefesselt sein von diesem seltsamen Ding, dem Gehirn, und seinen Fähigkeiten, seinen . . . ja, Geheimnissen.
Tausend Dinge fielen ihm plötzlich ein, die er ihr gern erzählt hätte. Über seine Arbeit am Institut, sein Studium – und auch ganz Persönliches. Woher kam dieses große Bedürfnis, mit dieser Fremden zu reden? Er hatte doch seine Freunde? Vermisste er die Frauen so sehr? Oder eher: eine Frau? Herrgott, schalt Sebastian sich selbst, du bist verknallt, Sebastian. Bis über beide Ohren. Das kommt vor, wenn man die vierzehn hinter sich gelassen hat, schon vergessen? Pfeif auf den ganzen Laienpsychologiekram. Es ist ganz natürlich, dass du . . . den Wunsch verspürst, ihre Karte aus dem Geldbeutel zu holen und ihreNummer zu wählen? Sie konnte noch nicht einmal das Gebäude verlassen haben. Wenn mich jetzt jemand so grinsen sieht, dann hält er mich vermutlich für einen Irren, dachte er. Und irgendwie hätte er Recht, vor allem angesichts der Tatsache, dass ich mich ausgerechnet an dem Tag verliebe, an dem mein Vater sterben wird.
22. April, Nachmittag
Sebastian betrat das Klinikum Innenstadt mit einem flauen Gefühl im Magen. Bis jetzt war es ihm gelungen, die Sache mit seinem Vater weit gehend zu verdrängen. So hätte es ein Psychologe vermutlich formuliert. Jetzt aber würde er ihn seit dem »Selbstmordversuch« zum ersten und zum letzten Mal sehen. Jetzt war er gezwungen, sich unmittelbar mit dem Tod seines Vaters zu befassen. Direkt und brutal. Ihn schwindelte.
Er hatte die Krankenhaus-Atmosphäre schon immer gehasst. Sicher bemühten sich die Verantwortlichen im Klinikum, den Patienten und ihren Angehörigen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen. Doch das gelang eben nur den Umständen entsprechend.
Sein Vater lag in einem in warmen Farben gehaltenen Raum, an dessen Wänden große Landschaftsbilder hingen, die von den Kurven und Protokollblättern am Bettrahmen ablenkten. Doch dank der piependen Maschinen, der Infusionsschläuche und sonstigen medizinischen Gerätschaften war es in dem Zimmer trotzdem alles andere als gemütlich. Immer, wenn er einen Kranken besuchte, spürte Sebastian, wie das Leiden eines Menschen einen Raum mit einer Atmosphäre von feierlichem Ernst erfüllt.
Er blieb eine Weile am Fußende des Bettes stehen und betrachteteseinen Vater. Das Gefühl der Vertrautheit, das sich bei Begegnungen zwischen Vater und Sohn trotz aller Distanz früher immer sofort wieder eingestellt hatte, blieb aus. Dem Menschen, der hier lag, war etwas Schreckliches zugestoßen. Doch Sebastian spürte nur Mitleid, ohne wirklich zu verstehen, dass es sich bei dem Menschen in diesem Bett um seinen Vater handelte. Erst als er das Krankenzimmer verlassen wollte, um sich bei der Stationsärztin zu melden, begriff er, wie tief ihn das Bild, das sich ihm hier bot, erschütterte. Er brauchte einige Minuten, um sich davon loszureißen.
Das Büro der Ärztin lag auf der gleichen Etage, ein kurzes Stück den Gang hinunter. Doktor Weiß erwartete ihn bereits. Sie bot ihm einen unbequemen Stuhl an, während sie selbst hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm.
Auf der Arbeitsplatte befand sich nichts außer einem einzelnen, schmalen Aktenordner. Eine sehr auf Ordnung bedachte Frau, ging es Sebastian durch den Kopf. Das Zimmer war penibel sauber und aufgeräumt. Die Fachbücher in den Regalen schienen nicht nur nach Themen, sondern darüber hinaus nach Größe und Farbe sortiert. Auch das Äußere der Ärztin sprach dafür. Nicht eine Strähne hing aus dem sorgfältig geflochtenen, langen Zopf, der ihr über die linke Schulter fiel. Ihr Kittel war blitzsauber und bis zum obersten Knopf geschlossen. Mehrere Kugelschreiber ragten aus der Brusttasche, alle von der gleichen Marke. Sebastian schätzte sie auf knapp fünfzig, aber die Haare zeigten noch keine Spur von Grau, und die Haut wies kaum Falten auf. Wenn dieselbe Sorgfalt, die sie ihrer Kleidung und ihrem Aussehen angedeihen ließ, auch ihren Patienten zugute kam, war man hier
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