Furor
Nachdem er Ihren Vater versorgt hatte, kam er zu mir und sagte, dass ihm etwas Seltsames aufgefallen sei.«
Endlich setzte sich die Ärztin wieder hinter den Schreibtisch. Sebastian verstand nicht: Sein Vater hatte eine Kopfverletzung erlitten, die zum Hirntod geführt hatte. Das war schrecklich. Aber was war es, das sie darüber hinaus so beunruhigte?
»Die Aussage des Sanitäters finden Sie nicht in den Akten«, fuhr die Ärztin fort. »Der junge Mann ist kein Arzt, er hat Ihren Vater nur gesehen, nicht untersucht, wenn Sie verstehen . . .«
Wieder ließ sie die Seiten des Aktenordners durch ihre Finger schnurren.
»An den Schläfen Ihres Vaters sind dem Sanitäter Schrammen aufgefallen, die er am Unfallort nicht bemerkt hatte. Bei den Verletzungen, die Ihr Vater erlitten hatte, könnte er am Unfallort natürlich etwas übersehen haben, das ihm dann erst hier aufgefallen ist, nachdem man Ihrem Vater das Blut aus dem Gesicht gewaschen hatte. Aber ich halte diesen jungen Mann für sehr verlässlich. Ich will damit sagen, es hat den Anschein, dass Ihrem Vater eine Behandlung zuteil geworden ist, von der ich nichts weiß und von der auch in den Krankenakten nichts steht. Keiner der dokumentierten Eingriffe würde zu solchen Schrammen . . .«
In diesem Augenblick klopfte es, die Tür ging auf, und Wallroth kam herein. Sebastian schaute sich überrascht um, dann stand er auf.
»Wallroth! Schön, dass du es geschafft hast!«
Der Wissenschaftler ließ die Tür mit Schwung wieder zufallen und begrüßte Sebastian. Der stellte ihn der Ärztin vor.
»Professor Frank Wallroth. Ein Freund und Arbeitskollege meines Vaters.«
Die Ärztin reichte dem Forscher über den Schreibtisch hinweg die Hand. Sie erschien Sebastian plötzlich sehr müde. Das plötzliche Eintreten des Mannes hatte sie offenbar aus der Fassung gebracht.
»Wie geht es dir heute?«, fragte Wallroth Sebastian, ohne sich weiter um die Ärztin zu kümmern. »Na ja, das ist eine dumme Frage.« Er betrachtete Sebastian nachdenklich. Dann wandte er sich an die Ärztin.
»Also, gibt es noch etwas zu besprechen, Frau . . .?«
»Nein«, antwortete die Stationsärztin. Sie kam Sebastian jetzt noch nervöser vor als vorhin.
»Sie hatten mir etwas von Schrammen . . .«, wollte er sie erinnern.
»Ach, vergessen Sie es«, unterbrach sie ihn. »Es war nicht wichtig. Alles, was wirklich wichtig ist, steht ja hier drin. Wenn Sie also noch Fragen haben, dann nehmen Sie einfach Einblick in die Akten.«
Seltsam. Sie wirkte plötzlich sehr abweisend.
»Um was geht es denn?«, fragte Wallroth und schaute interessiert von Sebastian zu der Ärztin.
»Ein Sanitäter, der meinen Vater am Institut verarztet hat, hat wohl gemeint, etwas an den Kopfwunden hätte sich verändert.«
»Verändert? In welcher Weise?« Wallroth richtete die Frage direkt an die Frau.
»Sind Sie ein Angehöriger?«, fragte sie zurück. Bevor er antworten konnte, fuhr sie jedoch fort: »Es war sicher ein Irrtum, und es war mit Sicherheit nicht wichtig. Wir sollten uns jetzt um Herrn Raabe kümmern, würde ich vorschlagen. Ich denke, die Transplantations-Teams sind bereit. Und wir haben Termine für die Transport-Hubschrauber.«
»Transplantation? Hast du Christian zur Organspende freigegeben?«, fragte Wallroth Sebastian. »Gut. Daran habe ich nicht gedacht. Dabei wäre das sicherlich in seinem Sinne. Also, dann bringen wir diesen schweren Gang hinter uns.«
Vor der Tür, hinter der der lebende Körper des toten Christian Raabe lag, trafen sie auf einen Mann in der schwarzen Soutane und dem weißen Kragen eines Priesters.
»Herr Raabe? Mein Name ist Pater Lukas. Ich bin Seelsorger hier am Klinikum. Möchten Sie, dass ich Sie begleite, wenn das Beatmungsgerät abgestellt wird? Den Unterlagen Ihres Vaters haben wir entnommen, dass er römisch-katholisch ist. Ich war deshalb so frei, ihm die Letzte Ölung zu geben.«
Sebastian war überrascht. Sein Vater war nicht religiös gewesen. Seine Mutter, ja, die war früher regelmäßig in die Kirche gegangen. Aber hätte sein Vater einen Priester gewollt? Er wusste es nicht. Vermutlich nicht. Und wer wollte das jetzt entscheiden? Wallroth kam ihm zu Hilfe.
»Warum nicht. Was, Sebastian? Wer weiß, wo Christians Seele jetzt ist – ein Priester wird jedenfalls bestimmt nicht stören.« Er wandte sich an den Mann.
»Was wollen Sie denn da drin machen? Beten?«
Der Priester nickte, irritiert von Wallroths direkter Art.
»Also gut, Sebastian. Stört es
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