Furor
bestimmt gut aufgehoben. Sebastian vermutete, dass sie ihn auf die bevorstehende Situation vorbereiten wollte. Zu seiner Überraschung war das nicht der Fall.
»Herr Raabe, ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen für das, was geschehen ist, und das, was noch bevorsteht. Undich möchte die Gelegenheit wahrnehmen und Sie auf einige Dinge hinweisen, die ich nicht ganz verstehe. Vielleicht können Sie sich ja einen Reim darauf machen. Nach dem heutigen Tage bin ich für Ihre Angelegenheiten – und die Ihres Vaters – formal nicht mehr verantwortlich. Aber hier drin«, sie tippte mit spitzen Fingern auf den Ordner vor ihr auf dem Tisch, »hier drin fehlt etwas, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.« Sie runzelte die Stirn, schien zu überlegen, wie sie erklären sollte, was sie beschäftigte.
»Hören Sie: Einer der Sanitäter, die Ihren Vater als Erste am Unfallort versorgt haben, hat mir erzählt, dass er und seine Kollegen ihn direkt hierher ins Klinikum bringen wollten. Das war ja nahe liegend, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber die Polizei hat offenbar verfügt, Ihren Vater in das Bundeswehrkrankenhaus in Obergiesing zu transportieren. Das war nach meiner Einschätzung völlig unnötig und fahrlässig. Ich habe mich dort nach den Gründen erkundigt, und man verwies darauf, dass Ihr Vater eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sei, die die bestmögliche Behandlung bekommen sollte.«
Sie öffnete den Aktenordner, ließ die Blätter durch die Finger gleiten und verschloss ihn wieder.
»Das ist, gelinde gesagt, absurd. Unser Klinikum ist das Zentrum für Hirnverletzungen. Wie Sie wissen, arbeiten wir eng mit dem Institut Ihres Vaters zusammen. Viele der Testpersonen Ihres Vaters und seiner Kollegen stammen von hier. Die Verletzungen Ihres Vaters waren allerdings so erheblich, dass die Zeit, die benötigt wurde, ihn in das Bundeswehrkrankenhaus zu bringen, für seinen Zustand letztendlich nicht mehr ausschlaggebend war. Das bedeutet, es gibt im Nachhinein keinen Anlass, eine Klage anzustrengen.« Sie machte eine Pause, dann stand sie auf und begann, hinter dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Aber davon konnte man ja nicht vonvornherein ausgehen. Was ich sagen will, ist: Es wäre auf jeden Fall angebracht gewesen, ihn hierher zu bringen.«
Sie blieb vor dem Fenster stehen, das hinter dem Schreibtisch den Blick auf die Fassade des gegenüber liegenden Gebäudes freigab. Es war eine typische Krankenhausfassade: ein Fenster neben dem nächsten, eine Fensterreihe über der anderen.
»Alle Einzelheiten finden Sie in diesen Unterlagen, meine persönliche Einschätzung dagegen nicht. Ich möchte nur, dass Sie über alles Bescheid wissen, was nach diesem Unfall passiert ist.«
»Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar«, sagte Sebastian. »Ich muss zwar gestehen, dass ich nicht so recht weiß, was ich davon halten soll . . .«
»Ja, das geht mir auch so. Aber ich hielt es für meine Pflicht, Sie als nächsten Angehörigen über alles, was Ihren Vater betrifft, in Kenntnis zu setzen.« Sie kramte in der Tasche ihres Kittels und holte eine Packung Zigaretten hervor.
»Ich hoffe, Sie entschuldigen. Auch als Mediziner hat man das eine oder andere Laster.«
Sie bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte dankend ab. Sie nahm einen Aschenbecher aus dem Regal und stellte ihn neben den Ordner auf den Tisch. Dann fuhr sie fort:
»Was ich Ihnen erzählt habe, ist noch nicht alles. Da steht etwas in den Unterlagen, Sie können selbst einen Blick darauf werfen. Aber . . .«
Sie nahm einen tiefen Zug, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch langsam zur Decke. Dann fuhr sie fort. »Es ist mir unbegreiflich, dass Sie nach der Feststellung des Hirntods Ihres Vaters nicht auf die Möglichkeit der Organspende hingewiesen wurden. Und bei allem Mitgefühl: Ich verstehe auch nicht, warum man Ihren Vater so lange über die Maschinen versorgt hat, nachdem der Hirntod längst feststandund keine Genehmigung für eine Entnahme von Organen vorlag. Vorgestern wurde Ihr Vater jedenfalls doch noch hierher verlegt. Warum, das konnte mir niemand sagen. Alles, was mir gesagt wurde, war, dass wir Ihren Vater übernehmen und dass die Maschinen heute nach Klärung der Angelegenheiten mit Ihnen abgestellt werden sollten.«
Sie sah Sebastian an, als erwartete sie eine Reaktion. »Und da wäre noch etwas«, fuhr sie fort. »Der Sanitäter, von dem ich Ihnen erzählt habe, arbeitet manchmal hier als Pfleger auf der Station.
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