Furor
Erwarten doch noch nicht vorüber war. Aber er wunderte sich. Hielt sie ihn zum Narren, oder konnte sie sich wirklich nicht denken, wieso er auf diesen Weg geraten war?
»Bei mir war es beides«, erklärte er, »Schlüsselerlebnis und motivierender Biologielehrer. Sozusagen in einer Person. Das liegt doch auf der Hand, oder?«
Sie schaute ihn fragend an.
»Meinen Namen kennst du ja«, sagte Sebastian. »Hast du dich mit dem Institut beschäftigt? Weißt du, wer der Direktor ist, zum Beispiel?« Hoffentlich klang das jetzt nicht arrogant, dachte er.
Sie legte die Hand über die Augen und lachte. »Natürlich. Dein Vater.«
Er nickte. »Ich hatte diesen ›motivierenden Lehrer‹ mein Leben lang um mich.« Ohne selbst zu wissen, wieso, fügte er hinzu: »In dieser Beziehung motivierend jedenfalls.« Wieso mache ich so eine Andeutung, fragte er sich. Schließlich war sie ja keine Briefkastentante. »Ich hatte sozusagen ein chronisches Schlüsselerlebnis«, fuhr er fort.
Sareah Anderwald wurde ernst. »Dein Vater liegt im Sterben, nicht wahr? Das tut mir Leid.«
Sie klang aufrichtig. Ob es gespielt war? Dann bekam sie es jedenfalls gut hin.
»Ich kann mir denken, wie es dir geht. Mein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben, und ich habe danach erst gemerkt, wie wichtig er für mich war. Nicht etwa, weil er so sehr für mich da gewesen war oder weil wir uns so gut verstanden hatten. Aber da war eben jemand, der . . . ich weiß auch nicht.«
Sebastian spürte, dass sie es ernst meinte. Wieso war er immer so misstrauisch? Insgeheim bat er sie um Entschuldigung.
»Ist schon okay. Ich komme damit klar. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr verstanden und kaum noch miteinander geredet. Und ich glaube, ich habe es noch gar nicht wirklich begriffen.« Er strich sich nachdenklich über die unrasierte Wange. »Irre ist allerdings, wie das Ganze passiert ist. Bisher ist darüber nicht allzu viel bekannt geworden – interessiert dich das?«
Er fand es plötzlich nicht mehr abwegig, ihr davon zu erzählen. Es war irgendwie in Ordnung. Vielleicht wegen der Art, wie sie von ihrem eigenen Vater gesprochen hatte.
»Aber das ist jetzt wirklich off the records, ja?«, bat er sie. »Ich habe keine Lust, morgen davon in der Zeitung zu lesen.«
»Versprochen.«
Sie hörte gebannt zu, während es plötzlich nur so aus ihm heraussprudelte. Danach schwiegen sie eine ganze Weile.
Sareah war es schließlich, die das Wort ergriff. »Seltsam, das Ganze. Viele Selbstmörder verschaffen sich auf die skurrilste Art und Weise eine letzte große Schau, als ob sie der Welt sagen wollten: Hier bin ich, nehmt mich wenigstens jetzt wahr. Aber bei deinem Vater steckt doch irgendetwas anderes dahinter. Der brauchte doch sicherlich nicht diese Art von Aufmerksamkeit? Welchen Reim macht sich die Polizei eigentlich auf die Geschichte?«
»Sie gehen von einem Selbstmord aus. Er soll sich betrunken und umgebracht haben.«
»Weißt du, was? Irgendwas ist doch da faul an der Sache, das spüre ich. Hältst du mich auf dem Laufenden?« Sie fingerte eine Visitenkarte aus ihrer Brieftasche. Während Sebastian sie in seinem Geldbeutel verstaute, versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Dann kam also nicht nur ihm die Sache seltsam vor?
Sie schaute auf die Uhr. »Ich müsste eigentlich los.«
»Eigentlich?« Gab es eine Chance, ihre Anwesenheit zu verlängern? Sollte er sie überreden, noch einen Kaffee mit ihm zu trinken, mit ihm essen zu gehen, sich seine Leere-Marmeladenglas-Sammlung zu Hause anzusehen, den Rest des Lebens mit ihm zu teilen?
»Nein, nicht eigentlich, sondern tatsächlich«, erklärte sie. »Ich muss gleich noch jemanden am Flughafen abholen, den ich lange nicht gesehen habe.«
Keine Chance, dachte Sebastian. Schade. Vielleicht sollte ich mich einfach in einen Sack einnähen und von der Brücke in die Isar stürzen.
Sie stand auf, schaltete das Aufnahmegerät aus und steckte es in die Tasche.
»Ja, dann . . .«
»Ich bedanke mich für Ihr Interesse im Namen des Instituts.« Sebastian griff lächelnd nach ihrer Hand und hielt sie fest.
Sie lachte. Die Linien um ihre Mundwinkel vertieften sich dabei. Sogar ihr Lachen wirkte energisch.
»Jedenfalls danke ich für dein Interesse an der Geschichte mit meinem Vater«, sagte Sebastian mit trockenem Mund. »So oder so.«
Jetzt lächelte sie. Sie hatte ihn verstanden. »So!«
Ihre Hand war kühl, und ihr Händedruck wirkte, als sei sie mit drei
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