Furor
und stieß zu. Doch der Getroffene reagierte kaum. Seine Schutzweste hatte den Angriff abgewehrt. Sebastian sah aus dem Augenwinkel einen Schlagstock auf sich zukommen und wich aus. Der Knüppel sauste knapp über ihn hinweg und knallte dem stämmigen Kerl, der das Mädchen zusammengetreten hatte, gegen den Helm. Der Kopfschutz flog zur Seite und der Getroffene taumelte gegen den Brunnenrand. Sebastian war überrascht, als er das Gesicht des Polizisten sah. Mit dem getönten Helmvisier wirkten die Bullen wie Roboter. Jetzt sah er einen jungen Kerl, vielleicht achtzehn, und sein Kopf wirkte viel zu klein, viel zu zart für diese martialische Kampfausrüstung. Er trug einen dünnen blonden Schnurrbart – der verzweifelte Versuch eines Jugendlichen, seinem weichen Gesicht ein wenig Männlichkeit zu verpassen. Kinder, die Krieg spielen, dachte er. Endlich begriff er, dass es allerhöchste Zeit war zu verschwinden. Er rappelte sich auf und rannte los. Er hätte sich nicht einmischen sollen. Verdammt, er hatte weiß Gott genug Probleme. Ohne sich umzusehen, überquerte er den Platz und rannte in Richtung Viktualienmarkt. Hinter sich glaubte er die Absätze schwerer Stiefel auf das Pflaster schlagen zu hören. In der Hoffnung, seine Verfolger zwischen den Verkaufsständen abzuhängen, lief er quer über den Markt, bog dann ins Rosental ab und rannte durch den Färbergraben, bis er wieder in die Fußgängerzone gelangte.Völlig außer Atem drängte er sich im Zickzack durch die mit Tüten und Taschen bepackten Passanten auf der Neuhauser Straße Richtung Karlsplatz. Vielleicht hatten ihn die allgegenwärtigen Überwachungskameras aufgenommen? Scheiß drauf! Er hatte etwas getan. Etwas Sinnloses und Dummes – aber wenigstens etwas, das ihm kurzfristig ein Ventil verschafft hatte. Er hatte Lust, aus vollem Halse seine Befriedigung herauszuschreien.
Als er den Karlsplatz erreicht hatte, griff er im Laufen nach einem Laternenmast und schwang sich an ihm herum. Es war niemand hinter ihm her.
Mit einem irren Grinsen auf dem Gesicht betrat er das McDonald’s am Karlsplatz, und erschreckte ein halbes Dutzend Sechsjährige, die dort Geburtstag feierten.
Nach einigen Minuten verließ Sebastian den Imbiss und verschwand in den Katakomben der S- und U-Bahnen. Er lief eine lange, steile Rolltreppe hinunter, stieg in irgendeine Linie ein, um dann im letzten Augenblick durch die Tür wieder hinauszuspringen. Dann nahm er eine U-Bahn in die andere Richtung, als sich die Türen schon zu schließen begannen. Er verließ sie eine Station später, rannte zur Treppe, kehrte gleich wieder um und sprang in dieselbe U-Bahn wieder hinein. Nachdem er dieses Spiel eine Weile betrieben hatte, fand er, es sei genug. Er nahm die nächste Verbindung Richtung Rosenheimer Platz.
Er war eine Viertelstunde zu früh. Von seinem Platz in der Ecke des Restaurants aus beobachtete er den Eingang. Nur zwei Personen betraten den Raum nach ihm: Ein eleganter älterer Herr im Anzug, der ihm wohl kaum nachgerannt sein konnte, und ein junger Mann, der den Kellner zu kennen schien.
Fünf Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt trat Sareah ein. Sie nahm Sebastian in den Arm und begrüßte ihn mit einem langen Kuss.
»Sind wir allein?«, fragte sie. Er nickte. Plötzlich stand der ältere Mann im Anzug an ihrem Tisch, und Sareah begrüßte ihn. Sebastian erhob sich. Das also war Sareahs geheimnisvoller Bekannter.
»Christof Altmann«, stellte Sareah vor. Sebastian schüttelte ihm die Hand.
»Christof Altmann? Der Christof Altmann?«, fragte er überrascht.
Der Mann lächelte, wobei sich sein Gesicht in Tausende von Falten und Fältchen aufzulösen schien. »Kommt darauf an, welchen Altmann Sie meinen, nicht wahr?«
»Ich hatte an den Psychologen gedacht«, sagte Sebastian lachend.
»Dann steht wahrscheinlich der Richtige vor Ihnen. Allerdings habe ich mich immer eher als Neurologen gesehen.« Altmann lupfte seine Hose über den Knien und setzte sich. Dann fuhr er sich mit den Händen über sein graues Haar und versuchte vergeblich, es zu einer Frisur zu ordnen.
Sebastian hatte schon einiges über diesen Wissenschaftler gehört: eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Persönlichkeitsforschung. Hatte einige Zeit einen Lehrstuhl an der Harvard University in Cambridge, USA, inne gehabt und war dort Nachbar von Daniel Wegner gewesen. Sebastian glaubte sich an einen Artikel zu erinnern, den der Forscher zusammen mit Wegner und Daniel Dennett von der
Weitere Kostenlose Bücher