Gabe der Jungfrau
Weil der Vater ihm nur kleine arbeiten auftrug, war Peter unzufrieden.
»aber schau, Peter«, versuchte anna Maria ihn nun zu besänftigen, »der Vater meint es doch nur gut mit dir. Du bist noch nicht stark genug, um schwere arbeiten zu verrichten.«
»Blödsinn! Er will mich bestrafen!«
»Für was soll er dich bestrafen?«
Im selben Moment wurde die Tür aufgestoßen, und Hofmeister erschien in der Küche.
»Was schwatzt ihr beiden? Ist das Essen bald fertig?« als er den Topf mit der Kohlsuppe sah, befahl er seiner Tochter: »Brate mir ein Stück Speck dazu!«
Mit grimmigem Blick bedachte er den Sohn. »Wenn du nichts zu schaffen hast, dann sieh nach, ob die Hühner Eier gelegt haben.«
Geschäftig rührte anna Maria die Suppe um. Nester ausnehmen war die arbeit einer Magd! Ein kurzer Blick in das Gesicht ihres Bruders reichte, um Peters Gefühle zu erraten.
»Mach, Bursche, dass du in den Hühnerstall kommst!«
Als die Tür mit einem lauten Knall zufiel, blickte das Mädchen zu seinem Vater.
»Vater«, begann anna Maria zaghaft, »sei nicht so streng mit Peter.« Kaum hatte sie die ersten Worte ausgesprochen, gab Hofmeister ihr eine schallende Ohrfeige und schrie sie an: »Was erlaubst du dir? Willst mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe? Jeder auf dem Hof, der essen will, muss arbeiten.«
»Aber seine Verletzung«, versuchte das Mädchen erneut.
»Sei still, du dummes Frauenzimmer, selbst der Depp im Dorf bekommt nichts geschenkt! Merk dir das!«
Wieder knallte die Tür im Rahmen.
Wie gelähmt stand anna Maria am Herd und rieb sich die Wange. Solch harte Worte hatte der Vater seit langem nicht mehr zu ihr gesagt. ›Vielleicht werden sich die Gemüter wieder
beruhigen, wenn endlich der Frühling zurückkommt‹, dachte das Mädchen und rührte weiter im Suppentopf herum. als anna Maria jedoch das Fell an der Küchenluke zurückschlug und den grauen Himmel sah, ahnte sie, dass der Frühling noch eine Zeitlang auf sich warten lassen würde.
Wütend ging Hofmeister zurück in seine Kammer und verschloss die Tür. als sein Blick auf die Truhe fiel, verrauchte seine Wut, und wie an vielen Tage zuvor, setzte er sich auf die Bettkante und starrte auf das Möbelstück. Immer noch wagte er nicht, die Truhe zu öffnen, obwohl er den Schlüssel schon längst aus seinem Versteck geholt hatte. Er wusste, was im Innern gelagert war und musste nicht erst den Deckel hochklappen, um alles vor sich zu sehen. Seit Jahren hatte er die Gegenstände nicht mehr in Händen gehalten, hatte sie aus seinem Leben verbannt, so wie die Erinnerungen an seine Vergangenheit.
Seit Peters Unglück waren die alpträume zurückgekehrt. Um die Erinnerung zu verdrängen konzentrierte er seinen Zorn auf den Jungen, weil der Unfall im Wald Hofmeister gezwungen hatte, mit der Truhe seine Vergangenheit zu öffnen. Jedes Mal, wenn er den Sohn sah, schürte das seine Wut aufs Neue.
Hofmeister fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Was soll das?«, fragte er sich selbst. »Peter kann nichts dafür. Irgendwann muss sich jeder seinem Leben und seinen Taten stellen.«
Er stand auf und zog den Schlüssel unter seinem Kopfkissen hervor. Schwerfällig kniete er sich vor die Truhe. Das Schloss knackte laut, als er den Schlüssel umdrehte und die Truhe öffnete. Mit Leichtigkeit hätte er den schweren Deckel hochheben können, doch er zögerte. Wie ein kleiner Junge saß er auf dem Boden und focht einen inneren Kampf mit sich. als er sich endlich durchgerungen hatte und seine Hände die Holzkante umfassten,
um den Deckel hochzuklappen, rief seine Tochter ihn zum Essen.
Schwer atmete Hofmeister aus und schloss für einen augenblick die augen. als er sie wieder öffnete, zog er langsam den Schlüssel zurück aus dem Schloss, stand auf und versteckte diesen wieder. Mit einem letzten Blick sah er zurück zur Truhe. »Ich weiß, dass ich dir nicht entkommen kann«, flüsterte er. Dann verließ er den Raum.
Nach dem Zwischenfall mit dem Vater war anna Maria froh, als es endlich Schlafenszeit war. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, denn es hatte sie viel Kraft gekostet, den schweren Mahlstein gleichmäßig rund laufen zu lassen. Selbst als anna Maria im Bett lag, schmerzten ihr noch die arme vom Mehlmahlen.
Rasch schlief sie ein und träumte vom Frühling und vom Tanz mit ihrem Bruder Peter. Während sie sich mit ihm im Kreis drehte, spürte sie im Schlaf, wie ein Schauer durch ihren Körper ging. Eine Gänsehaut kroch ihre
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