Gabe der Jungfrau
bis sie einen steilen abhang erreichte. ›Die Wolfsschlucht‹, dachte sie erschrocken.
Der Gestank schien aus der Schlucht emporzusteigen, denn als sie sich über den Rand beugte, wurde er stärker. Plötzlich rutschte der Boden unter ihren Füßen weg, und sie rollte den abhang hinunter. Laub und dünne Äste verfingen sich in ihren Haaren. Unsanft landete sie am Fuße des Hanges. ›Zum Glück habe ich mir nichts gebrochen!‹, dachte sie, als sie sich die Schürfwunden an Knien und Händen besah.
Sie richtete sich auf und klopfte den Umhang ab, der nass und schwer an ihr hing. Unweit entfernt fand sie auch ihren Pilgerstab und den Beutel wieder – beides hatte sie beim Sturz verloren. Wieder stieg ihr ein widerwärtiger Geruch in die Nase, doch Bäume und Buschwerk versperrten ihr die Sicht.
Wie magisch angezogen folgte sie dem Gestank, der immer mehr zunahm. angewidert presste sie den arm vor die Nase, während sie weiterging. Plötzlich hörte sie ein Jaulen, Winseln und Knurren. Rasch versteckte sie sich hinter einem Baumstamm, der ihre Gestalt vollkommen verdeckte. anna Maria wusste, dass es klüger wäre, eilends den Weg zurückzugehen, doch die Neugier siegte. Schwer atmend lugte sie hinter dem Stamm hervor und konnte nur mit Mühe einen Schrei des Entsetzens unterdrücken. Es würgte sie, denn Übelkeit stieg in ihr auf.
›Unmöglich!‹, dachte sie. ›Ich glaube nicht, was ich sehe!‹ Wieder schaute sie hinter dem Baum hervor und erkannte, dass ihre augen sie nicht getäuscht hatten. Zittrig suchte sie nach dem Stück Kohle in ihrem Beutel und malte sich die Stirn
schwarz an. Dabei flüsterte sie kaum hörbar: »Ich muss nichts fürchten. Sie werden mir nichts tun, denn ich trage das Bannzeichen auf der Stirn!«
Doch als sie erneut zu dem Ort des Grauens blickte, wusste sie, dass sie nichts würde schützen können. »Lieber Gott, bitte hilf mir! Ich will noch nicht sterben!«, betete sie inbrünstig.
Auf der kleinen Waldlichtung stand ein abgestorbener hoher Baum, an dem eine Leiche hing. Es war der Verwesungsgeruch, der von dem Toten ausging, dem anna Maria gefolgt war. Mehrere Wölfe, größer als jeder Hund, den anna Maria je gesehen hatte, sprangen immer wieder an dem Toten empor und fraßen das Fleisch von seinen Beinen. Es war bereits bis zu den Oberschenkeln abgefressen, und die Unterschenkelknochen fehlten. Um die abgetrennten Beinknochen stritten sich am Boden gleich mehrere kleine Wölfe. Krähen, die auf dem Kopf des Gehängten Platz genommen hatten, hatten ihm augen und Nase ausgehackt. Trotz der Entfernung konnte anna Maria die dunklen, leeren augenhöhlen erkennen. als erneut ein Wolf mehrmals an dem Toten hochsprang, schaukelte die Leiche hin und her. Laut schimpfend flogen die Krähen auf. Erst, als der Leichnam wieder ruhig hing, setzten sie sich erneut auf seine Schultern und setzten ihre Mahlzeit fort.
Angewidert und zugleich gebannt, verfolgte anna Maria das gruselige Schauspiel. Wer mochte der Tote sein? Wie alt war er gewesen, und wer hatte ihn aufgehängt? Voller Verzweiflung dachte sie an ihre Brüder. Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, ob ihnen Ähnliches passieren könnte, und schlug sich mit der flachen Hand mehrmals an den Kopf, als könne sie so die furchtbaren Gedanken verscheuchen.
›Wäre das doch nur ein Traum, aus dem ich gleich erwachen würde!‹, dachte anna Maria flehentlich. ›Vielleicht ziehen sich
die Wölfe aber für die Nacht zurück‹, ging es ihr dann durch den Kopf, als sie ein lautes Knurren zusammenzucken ließ. Langsam wandte sie den Kopf zur Seite.
Ein grauer Wolf, größer als alle anderen, war aus dem Wald getreten und sah von einer Steinplatte zu dem Rudel hinüber. Er knurrte und zog seine Lefzen hoch, sodass anna Maria sein starkes Gebiss erkennen konnte.
Ein Wolf des Rudels stellte sich dem Eindringling entgegen, während die anderen aus sicherem abstand ihn zu beobachten schienen. Dieser Wolf war der kräftigste und größte des Rudels.
Angespannt kauerte anna Maria hinter dem Baumstamm. Noch hatte sie keiner der Wölfe bemerkt, und sie hoffte, dass dies so bleiben würde.
Mit zusammengekniffenen augen beobachtete anna Maria das Treiben. Plötzlich preschte der graue Wolf auf den anführer des Rudels zu. Knurrend und zähnefletschend, mit nach oben gehaltener Rute sprang er hoch und biss dem Gegner in den Nacken. Dieser wehrte sich und wälzte sich auf dem Boden, um den angreifer loszuwerden. Doch der ließ
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