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Gabe der Jungfrau

Gabe der Jungfrau

Titel: Gabe der Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Zinßmeister
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Gruselgeschichten, die sie als Kind gehört hatte, verlangsamte anna Maria ihre Schritte. achtsam beobachtete sie den Wald. Und mit jedem weiteren Schritt erinnerte sie sich an die Märchen von Dämonen, Hexen und Werwölfen, und ihre angst wuchs. Hastig atmend lehnte sie sich an eine Kiefer und versuchte die Gedanken zu verscheuchen.
    Damals hatte der Vater ihr erklärt, dass es nur erfundene Geschichten seien, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätten. Doch damals wie jetzt in diesem dunklen Wald hatte anna Maria ihre Zweifel, ob die Schilderungen des fahrenden Volks tatsächlich nur der Einbildungskraft des Geschichtenerzählers entsprungen waren.
     
    Inmitten des Waldes schien es windstill zu sein, obwohl anna Maria wusste, dass über ihr der Wind an den Bäumen rüttelte. Gelb gefärbte Blätter rieselten auf sie herab. Zwischen den Wipfeln konnte das Mädchen ab und an einen Blick auf den Himmel erhaschen, wo dunkle Wolken wie eine Schafherde vorbeizogen.

    Es war an der Zeit, sich einen Schlafplatz zu suchen, denn rasch würde die Dämmerung hereinbrechen. Unter umgestürzten Bäumen, deren Stämme zu einem Dach verkeilt waren, wollte sie sich für die Nacht ein Lager herrichten. Eilig raffte sie Laub zusammen, um den Schlafplatz zu polstern. Sie schaffte es gerade rechtzeitig, sich in ihrem Versteck zu verkriechen, als ein aufziehendes Unwetter die Bäume ächzen ließ.
    »Als ob er vom Tod singen würde«, wisperte anna Maria, als der Wind durch einen der hohlen Baumstämme strich und eine gespenstische Melodie erklingen ließ. anna Maria hüllte ihren Körper in den dunklen Pilgerumhang und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Niemand würde vermuten, dass sich ein verängstigtes Mädchen unter den Baumstämmen verbarg.
    ›Sicherlich werde ich kein auge zutun‹, fürchtete anna Maria, als der schrille Schrei eines Vogels sie erschaudern ließ.
    Als sie wenig später ein Rascheln und Schnauben hörte, schlug sie langsam die Kapuze zurück, um besser sehen zu können. Spinnen und anderes Getier fielen von dem morschen Holz auf ihr Gesicht. am liebsten wäre sie aufgesprungen und schreiend weggerannt, doch die Geräusche kamen näher. Etwas Weiches stieß an ihr Bein. Wie tot blieb sie liegen und wagte kaum zu atmen. Nur Tränen, die ihr an den Nasenflügel hinunterliefen, verrieten, dass sie noch lebte.
    Was knisterte dort drüben im Gebüsch? Da! anna Maria konnte viele kleine Füße über den weichen Waldboden trappeln sehen. Wieder ein Schnauben, ein Grunzen. Erleichtert erkannte sie, dass es eine Rotte Wildschweine war, die mit ihren weichen Nasen die Erde durchwühlten.
    Sie verhielt sich ruhig, und schon bald zogen die Tiere weiter. Eine gespenstische Stille breitete sich aus. Langsam setzte feiner Regen ein. Wenn die Wolken den Mond freigaben, spiegelte sich sein Licht auf dem feuchten Farn und den nassen Büschen. anna Maria spürte, wie ihre augenlider schwer wurden.
Erst als das Licht die Schatten der Morgendämmerung verdrängte, erwachte sie. Der Regen hatte aufgehört. Wind trocknete den Boden und schob dunkle Wolken vor sich her.
    Mit schmerzenden Gliedern kroch anna Maria aus ihrem Versteck. Sie reckte und streckte sich, doch der Schmerz blieb.
    »Wenigstens habe ich die Nacht überlebt!«, tröstete sie sich. als sie sich über das Gesicht wischte, bemerkte sie den Ruß auf ihren Fingern.
    ›Vielleicht hat Ruth recht daran getan, mir den Fleck auf die Stirn zu malen‹, überlegte anna Maria. Sie suchte in ihrem Beutel nach der Kohle und malte sich erneut einen großen schwarzen Punkt auf die Stirn. Sofort fühlte sie sich stärker. Sie aß ein Stück Brot. als sie auch Käse aus dem Sack holen wollte, erkannte sie, dass Kaspar und Melchior ihr nichts übrig gelassen hatten. In der Erinnerung an die beiden Knaben lächelte sie und dachte: ›Einerlei! Ich werde nicht verhungern.‹
    Gestärkt und frohen Mutes setzte sie ihren Weg durch den Wald fort. Nicht immer war der Pfad mühelos zu beschreiten. Oft musste sie sich durch dichtes Buschwerk kämpfen, umgestürzte Bäume umgehen oder über gurgelnde Bäche springen.
    Dann hinderte sie ein steiler Hang am Weitergehen. Zwar fand sie eine etwas flachere Stelle, an der sie hinaufklettern konnte, aber dennoch war der Hang nur mühsam zu erklimmen. Sie musste sich an Zweigen und Wurzeln hochziehen. Immer wieder rutschten ihre glatten Bundschuhe auf dem feuchten Untergrund weg. Nach kurzer Zeit keuchte anna Maria wie ein altes Weib.

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