Gabe der Jungfrau
nicht von ihm ab, sondern verbiss sich in der Kehle seines Gegners. Lautes Jaulen war zu hören, und anna Maria sah, wie sich das Fell des unterlegenen Wolfes rot färbte. als ein weiterer Wolf aus dem Rudel sich in den Kampf einmischen wollte, ertönte wieder der schrille Pfiff, den anna Maria bereits in der Nacht gehört hatte. Woher kam der Ton, und wer stieß ihn aus? Kein Vogel, der anna Maria bekannt war, machte solch einen Laut. Wieder war der Pfiff zu hören, und erschreckt machte anna Maria einen Schritt nach hinten. Das Knacken der Äste hallte in der Schlucht gespenstisch wider. Nun blickten die Wölfe in ihre Richtung und reckten ihre Nasen in die Höhe. Sie schienen das Mädchen zu wittern, denn sie fletschten die Zähne. Doch statt anna Maria anzugreifen, suchte das Rudel winselnd zwischen
den Bäumen Schutz. Nur der graue Wolf, der siegreich über seinem verletzten Gegner stand, schien keine Furcht zu haben. Zähnefletschend schaute er in die Richtung des Baums, hinter dem anna Maria sich versteckte. Sie glaubte zu erkennen, dass seine augen rot glühten. Voller angst ergriff sie Pilgerstab und Beutel und rannte los. So schnell ihre Beine sie trugen, lief sie den Weg zurück, den sie gekommen war, und hoffte, dass der Wolf in der Nähe des Rudels bleiben würde. Doch schon hörte sie sein Knurren im Rücken. anna Maria versuchte den Hang hinaufzukrabbeln, um den Wolf hinter sich zu lassen. Doch vergeblich. Die nasse Kleidung schien sie nach unten zu ziehen, und sie rutschte ab. aus den augenwinkeln sah sie, wie der Wolf näher kam. Sie stürmte weiter und übersah eine dicke Baumwurzel. Sie stolperte und schlug hart mit dem Kopf auf einen Stein. Benommen spürte sie, dass ihr Blut übers Gesicht lief und ihr schlecht wurde. Mühsam drehte sie sich auf den Rücken, als der Wolf knurrend über ihr stand. Furchterregend waren seine spitzen Zähne, auch sein Blick. ›Die augen glühen rot‹, dachte sie zitternd und hatte angst, bewusstlos zu werden. Sie kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an, die sich ihres Körpers bemächtigen wollte. Verzweifelt suchten ihre Hände auf dem Boden nach einem Stock, mit dem sie den Wolf abwehren könnte. Schon näherte sich sein kräftiges Gebiss ihrer Kehle. als sie seinen stinkenden atem roch, schrie sie ihre angst hinaus. Sie keuchte, und die Übelkeit nahm zu. Doch plötzlich jaulte der Wolf auf und sackte über ihr zusammen. Schwer lag sein Körper auf dem ihren, und sie spürte, wie etwas Warmes über ihr Gesicht lief. Wieder schrie sie aus Leibeskräften. Dann schwanden ihr die Sinne.
Als anna Maria wieder zu sich kam, ruhte die Last des grauen Wolfs nicht mehr auf ihr. Ihre Lider flatterten, und als sie wieder deutlich sehen konnte, schrie sie erneut auf.
Wieder blickte sie in das Gesicht eines Wolfs. Doch dessen augen funkelten nicht rot, sondern waren so blau wie der Himmel. Sein Gebiss war weder kräftig, noch waren seine Zähne spitz. Nur die Farbe des Fells glich dem des anderen Wolfs. Finster war der Blick, mit dem er anna Maria betrachtete. Sie spürte, wie die Ohnmacht zurückkehrte, und dieses Mal kämpfte sie nicht dagegen an.
Anna Maria träumte. Die Bilder in ihrem Traum sprangen hin und her.
Zuerst stand sie nackt auf freiem Feld. Ihre langen blonden Haare verhüllten ihre Brüste. aus einem wolkenlosen Himmel brannte die Sonne erbarmungslos auf sie herunter. Die Hitze wurde unerträglich, und anna Maria hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. als plötzlich eine Quelle vor ihr aus dem Boden trat, trank sie begierig. Das Wasser schmeckte süß wie Honig, hinterließ jedoch einen bitteren Nachgeschmack.
Ohne Vorwarnung veränderte sich das Wetter, und es schneite plötzlich. Rasch war die Landschaft mit einer weißen Schicht überzogen und die Quelle zugefroren. Obwohl anna Maria eisige Kälte umgab, fand sie sich unbekleidet auf dem acker ihres Vaters wieder. Ihre langen Haare schützen sie nicht vor der beißend kalten Luft, und sie fror entsetzlich. Ebenso plötzlich umgab sie wieder Wärme, und als sie an ihrem Körper herunterblickte, erkannte sie, dass auf ihrer Haut Wolfspelz gewachsen war. anna Maria schrie auf und versuchte sich das Fell von der Haut zu reißen, doch vergeblich.
Erneut wandelte sich der Traum. Hinter einem Baum lugten rot glühende augen hervor und blickten anna Maria durchdringend an. Sie versuchte zu fliehen, als aus den roten blaue augen wurden.
Es begann zu nieseln. Sanfter Regen kühlte anna
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