Gabe der Jungfrau
dämmerte.
Ungewohnte Ruhe herrschte in der Höhle. ›Die Wölfe‹, schoss es ihr durch den Kopf. Rasch setzte sie sich auf und blickte zum Lager der Welpen. Erleichtert stellte sie fest, dass der Wolfsmensch in der Nacht zurückgekommen war. Gleichmäßig atmend lag er mit den kleinen Wölfen im arm auf dem Boden.
Um ihn nicht zu wecken, streckte anna Maria sich wieder aus und beobachtete den Mann nachdenklich.
›Wie er wohl ohne diesen furchtbaren Bart aussehen würde? ‹, überlegte anna Maria. Mit den Zotteln im Gesicht konnte sie sein alter nicht schätzen. ›Vielleicht ist er alt und hässlich‹, dachte sie. als er sich plötzlich bewegte, stellte sie sich schlafend.
Lautes Fluchen ließ sie ihr Schauspiel schnell beenden. Der Mann stand vor der Wandzeichnung, die ihn darstellte, und schimpfte wüst. Er schien zu wissen, dass sie nicht schlief, denn ohne sich zu ihr umzudrehen, fauchte er wütend: »Wie kommt Ihr dazu, solche Bilder an die Wände zu schmieren?«
Nun richtete er seinen zornigen Blick auf anna Maria, die sich nicht erklären konnte, was ihm an den Bildern missfiel. Er ahnte, dass sie seine aufregung nicht verstand, deshalb erklärte er aufbrausend: »Wenn die Wolfsjäger Eure Zeichnung von mir sehen, wissen sie, wie ich aussehe, und können gezielt Jagd auf mich machen.«
Erschrocken weiteten sich anna Marias augen. Daran hatte sie im Traum nicht gedacht! Hastig riss sie einen Streifen Stoff von ihrem Rock und wischte über die Kohlezeichnung. Da es
nichts nutzte, versuchte sie es mit Wasser. Trotzdem waren die Konturen noch immer deutlich zu erkennen. Sie wusste sich keinen Rat und übermalte das Bild so, dass aus dem zotteligen Wolfsmenschen ein großer alter Baum wurde.
Der Mann, der zwischenzeitlich die Wölfe gefüttert hatte, besah sich mit zusammengekniffenen augen die neue Zeichnung und lachte dann völlig unvermittelt los. anna Maria traute sich nicht, etwas zu sagen, und ertrug stumm das Gelächter.
Als der Wolfsmensch sich beruhigt hatte, fragte anna Maria nach den Wolfsjägern. Sein Gesichtsausdruck wurde sofort wieder ernst.
»Ich konnte das Rudel in ein entlegenes Waldstück führen, und ich hoffe, dass die Tiere dort sicher sein werden. Ich werde ihnen nun schnellstmöglich mit den Kleinen folgen.«
»Ist die Schlucht, in der der Tote am Baum gehangen hat, die Wolfsschlucht?«, wollte anna Maria wissen.
»Nein. Der Leichengeruch hatte die Wölfe angelockt – nur deshalb waren sie dort anzutreffen.«
»Wer seid Ihr? Warum lebt Ihr mit Wölfen zusammen?«, brach es aus dem Mädchen heraus.
Der Mann stöhnte laut auf. »Ich hatte Euch bereits gesagt, dass ich …«
»Ich werde heute noch weiterziehen«, unterbrach anna Maria ihn, »warum sträubt Ihr Euch also, mir meine Fragen zu beantworten? Werdet Ihr gesucht?«
Nachdenklich starrte er sie an.
»Mein Leben geht Euch nichts an. Genauso wie ich nichts über Euer Leben erfahren will.«
»Warum nicht? Schließlich habt Ihr mich gerettet.«
Doch der Mann schüttelte den Kopf. »Erspart mir Eure Geschichte! Euer Name und Euer Leben sind mir einerlei, denn wir werden uns nie wiedersehen.« Dann drehte er sich um, nahm
eines der Jungen unter den arm und ging hinaus. Die drei anderen Welpen folgten ihm.
Anna Maria hatte gehofft, mehr über den seltsamen Fremden zu erfahren, auch wollte sie wissen, wer der Tote im Wald war. ›Dieser Klotzkopf!‹, dachte sie wütend und packte ihre Sachen zusammen. Dann hüllte sie sich in den Pilgerumhang und nahm Beutel und Wanderstab auf. Bevor sie die Höhle verließ, malte sie sich einen schwarzen Punkt auf die Stirn. »Man kann nie wissen«, brummte sie. Plötzlich breitete sich ein widerlicher Gestank in der Höhle aus. Drei der vier Wolfsjungen waren zurückgekehrt, dicht gefolgt von dem Wolfsmann, der den vierten Welpen noch immer auf dem arm trug.
»Igitt!«, rief anna Maria und hielt sich die Nase zu. »Ihr stinkt genauso wie die Wölfe!«
Der Wolfsmann schnüffelte an seinem Fell. »Ich kann nichts riechen! Wölfe wälzen sich gerne in aas – vielleicht ist es das, was Euch anwidert.« als er ihren Beutel sah, fügte er hinzu: »Ihr seid zum aufbruch bereit? Das ist gut, denn ich muss ebenfalls fort.« Kritisch beäugte er sie. »Nun habe ich doch eine Frage an Euch.« Erstaunt blickte anna Maria zu ihm auf. »Was bedeutet dieses Zeichen auf Eurer Stirn?«, wollte er von ihr wissen.
Anna Maria glaubte ein verräterisches Glitzern in seinen augen zu erkennen. Sie
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