Gabe der Jungfrau
holen?«
»In wenigen Tagen. Vater will den Neumond abwarten.«
»Dann wird er von der Dunkelheit gänzlich verschluckt werden, ebenso wie deine Zeichnungen.«
Anna Maria war im Begriff das Geschirr abzuräumen, als sie innehielt und den Bruder fragend anblickte.
»Du weißt es nicht?«, stellte er verwundert fest.
»Was?«
»Dass Matthias das Wild beim alten Steinbruch versteckt hat.«
Erschrocken weiteten sich anna Marias augen, und sie setzte sich ans Fußende des Bettes. So heiß wie ihre Wangen eben noch geglüht hatten, so kalt und bleich waren sie jetzt.
»Warum? Weiß Matthias … Hat er sie gesehen?«, fragte sie stammelnd.
»Nein! Dafür war keine Zeit, wir mussten uns beeilen. Sorge dich nicht, anna Maria. Vater wird ebenfalls keine Zeit haben, sich den Steinbruch genauer zu betrachten. Warum sollte er auch? Schließlich hegt er keinen Verdacht. Und falls er die Zeichnungen doch sieht, wird er kaum ahnen, dass sie von dir stammen. außerdem muss der Rehbock rasch geborgen werden, da die Jäger des Grundherrn auf der Lauer liegen könnten.«
»Das glaube ich nicht, denn sie vermuten, dass der Wilderer das erlegte Vieh bereits mitgenommen hat. Sonst hätten sie es nicht reihum auf den Höfen gesucht.«
Peter nickte. »Matthias wusste, wie wir alle Spuren am geschicktesten verwischen. Darin ist er meisterhaft, genauso wie er fehlerlos mit der armbrust trifft. Kurz vor der Lichtung hat er dem Bock sauber ins Herz geschossen. Trotzdem ist das Tier zurück in den Wald gelaufen und erst nach fast fünfzig Schritten tot zusammengebrochen. als wir die Hunde des Jägers hörten, haben wir den toten Rehbock einige Zeit durch das eiskalte Wasser des Mehlbachs getragen. In Höhe des Grubenlochs
sind wir auf die andere Seite des Waldes gewechselt. am Steinbruch, wo der Dachsbau ist, haben wir das Wild ausgeweidet und die Gedärme dem alten Dachs vors Loch geworfen. Ich wette, dass davon kurze Zeit später nichts mehr zu sehen war. Stell dir vor, anna Maria, der Bock war kurz davor, sein Gehörn zu verlieren, denn als Mattias ihn wegschleifen wollte, hatte er die Gehörnstangen in der Hand.« Peter lachte kurz auf. »Obwohl es dunkel war, wusste Matthias, wo die Wurzeln der Bäume und Sträucher frei in den Bach ragen. Genau dort haben wir den Rehbock ins fließende Wasser gelegt und seinen Bauch mit Flusssteinen gefüllt, damit er nicht auftauchen kann. Wenn Vater den Bock holen kommt, wird das Fleisch so weich sein, dass es vom Knochen fällt.«
Anna Maria hatte ihrem Bruder kaum zugehört, denn sie war sehr beunruhigt. als Peter geendet hatte, umfasste er die Hand seiner Schwester. als sie zu ihm aufblickte, zwinkerte er ihr aufmunternd zu. »Dein Geheimnis wird gewahrt bleiben!«
»Versprichst du mir das?«
»Wäre ich nicht ans Bett gefesselt, dann könnte ich dir das sogar schwören, aber so … Du musst Matthias und Jakob einweihen, damit sie Vater am Steinbruch ablenken, oder aber sie müssen ihn überreden, dass er zu Hause bleibt.«
»Nie und nimmer würde ich Matthias von den Zeichnungen erzählen. Ich hätte keine Ruhe mehr! Ständig hätte ich angst, dass er sich wichtig machen will und mein Geheimnis preisgibt. Und Vater wird auch nicht daheim bleiben. Denn er musste Mutter versprechen, Matthias und Jakob nicht allein gehen zu lassen.«
Peter seufzte. »Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als zu beten.«
Ohne ein weiteres Wort nahm anna Maria das Essgeschirr und verließ die Kammer.
Erschöpft legte sich Peter zurück in die Kissen und grübelte.
Er verstand anna Marias Ängste und hätte seiner Schwester gern geholfen, doch er wusste nicht wie.
Als anna Maria die Kammertür hinter sich schloss, war das wunderbare Gefühl, das sie seit Tagen begleitete, verschwunden.
Dieses Gefühl, das sie in dem augenblick erfüllt hatte, als sie frierend aus dem Schweinestall auf den Hof getreten war und der Vater ihr stolz zugelächelt hatte. Noch nie hatte er sie so angesehen, und noch nie hatte ihr Herz vor Freude so schnell in ihrer Brust geschlagen wie in diesem Moment. Obwohl anna Marias Kleidung von Mist verdreckt gewesen war und sie selbst wie ein Borstenvieh gestunken hatte, wurde sie von der Mutter liebevoll umarmt. Sogar mehrmals durfte die Magd kostbares heißes Wasser, dem die Mutter wohlriechende, getrocknete Kräuter hinzugefügt hatte, in den Waschzuber gießen.
Jeder auf dem Hof hatte mitbekommen, dass anna Maria die Männer des Grundherrn getäuscht hatte, indem sie
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