Gabe der Jungfrau
erhellte ihr Gesicht.
Anna Maria holte die Kohlestücke hervor und suchte sich an den Wänden einen geeigneten Platz. Dann begann sie zu zeichnen. Sie zeichnete die Wolfsjungen beim Schlafen, beim Fressen, beim Spielen, und sie zeichnete den Fremden. als die Kohle fast aufgebraucht war, fand sie am Rand der Feuerstelle neue Stücke.
Erst als die Dämmerung hereinbrach, hörte anna Maria mit dem Zeichnen auf, denn das Licht wurde schwach, und sie konnte kaum noch etwas erkennen.
Sie setzte sich auf ihr Lager und versuchte ihre geschwärzten Finger an der Felldecke zu säubern. Während des Zeichnens hatte sie an ihre Brüder denken müssen. Immer wieder hatte sie in sich hineingehört. Sie spürte kein angsterfülltes Herzklopfen, konnte auch kein ungutes Gefühl ausmachen, wie so viele Male zuvor, wenn sie glaubte, dass den beiden etwas passiert sein könnte. »Es geht ihnen gut!«, beruhigte sie sich.
Die Wolfsjungen erwachten und lenkten anna Maria von ihren Gedanken ab.
Für die letzte Fütterung vor der Nacht verbrauchte sie das restliche Fleisch. Damit die Jungen genügend zu fressen bekamen, verzichtete das Mädchen sogar auf seinen anteil.
»Hoffen wir, dass der Wolfsmensch morgen frisches Fleisch mitbringt.«
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. ›Was mache ich, wenn er nicht zurückkommt?‹, fragte sie sich und schaute sorgenvoll auf die vier schlafenden Wölfe.
»Das werde ich morgen entscheiden!«, sagte anna Maria
müde und schloss die augen. Doch sie konnte keinen Schlaf finden, zu viele Gedanken hielten sie wach.
Das Flackern des Feuerscheins, der die Höhlenwände erhellte, schien ihre Zeichnungen zum Leben zu erwecken.
Anna Maria war von ihren eigenen Bildern beeindruckt. Viele Jahre hatte sie nicht mehr gezeichnet und doch hatte sie nichts verlernt. Die Wolfsjungen sahen aus, als ob sie jeden augenblick von den Wänden springen würden. Selbst der Wolfsmensch schaute so grimmig wie in Wirklichkeit.
»Wenn Peter das sehen könnte«, seufzte anna Maria und dachte an den Tag zurück, als ihr Vater beinahe ihr Geheimnis entdeckt hatte.
Anna Maria erinnerte sich, als wenn es gestern gewesen wäre. Sie hatte Peter in seiner Schlafstube aufgesucht, wo er schwer verletzt im Bett lag.
Einen Tag zuvor war der Jäger des Grundherrn auf dem Hofmeister Hof erschienen, da er zwischen dem frisch geschlachteten Schweinfleisch erlegtes Wild vermutet hatte und die Hofmeister Söhne der Wilderei verdächtigte.
Mehlbach, November 1520
»Jakob und Mattias haben mir erzählt, wie du den Forstverwalter an der Nase herumgeführt hast«, hatte Peter seine Schwester gelobt.
Anna Maria spürte, wie Hitze in ihre Wangen schoss. Verlegen schaute sie zur Seite.
»Mein Essen wird kalt!«, sagte Peter lachend.
»Oh, entschuldige!«, stammelte sie, und ihr Gesicht verfärbte sich noch eine Spur dunkler.
Erst einige Tage nach dem Zwischenfall im Wald durften die Geschwister ihren Bruder Peter besuchen. »Der Bub muss sich gesund schlafen!«, hatte die Mutter sorgenvoll erklärt und jedem den Zutritt zu seiner Kammer verwehrt.
Jakob, Matthias und Nikolaus mussten sogar in anderen Zimmern nächtigen.
Als es Peter besser ging und die Eltern den Geschwistern erlaubten, ihn zu besuchen, waren Jakob und Matthias in sein Zimmer gestürmt, um ihm von den neuesten Ereignissen auf dem Hof zu berichten.
Anna Maria legte Peter ein kleines Brett über die Bettdecke und stellte den Becher mit Milch und die Holzschüssel mit der Fleischpastete darauf.
Ungelenk und mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht versuchte Peter die gefüllte Teigtasche zu zerteilen.
»Warte, ich helfe dir!«
Als sich anna Maria herabbeugte, hielt Peter sie am arm fest, sodass sie ihm in die augen blicken musste.
»Danke! Ohne dich würde ich jetzt im Kerker sitzen!«
Anna Maria lächelte unsicher. Sie zerteilte die Pastete in mundgerechte Stücke. Obwohl die Wunde spannte, versuchte Peter sich im Bett aufzusetzen.
»Mutter hat gesagt, dass deine Wunde gut verheilt. Vater hat recht daran getan, dir die Verletzung auszubrennen.«
»Allein, wenn ich an das bittere Gebräu denke, das Vater mir eingeflößt hat.« angewidert kräuselte er die Nase.
»Ich hoffe, dass ich bald mein Lager verlassen kann.«
»Du wirst dich noch schonen müssen, Peter.«
Er stimmte ihr zwar zu, doch in seinem Gesicht konnte sie seinen Unmut darüber lesen.
Zwischen den letzten beiden Bissen Fleischpastete fragte er: »Wann wird Vater das Wild aus dem Wald
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