Gabe der Jungfrau
Ferne einschüchternd auf anna Maria gewirkt hatte, sah beim Näherkommen weniger bedrohlich aus. Das Mädchen erkannte, dass sie teilweise zerstört und verfallen war.
An manchen Stellen klafften riesige Löcher in dem dicken Mauerwerk, teilweise fehlten ganze Mauerabschnitte. Ein gewaltiger Turm war im oberen Bereich in sich zusammengebrochen. Geröll, Steinbrocken und Holzbohlen lagen überall verstreut.
Anna Maria wusste nicht warum, aber die Burg kam ihr wie ein verwundetes Tier vor. Das Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass wie bei einem Toten Krähen über den Festungsmauern kreisten. Nur ihre schrillen Schreie waren zu hören und ließen den Ort unheimlich wirken.
Anna Maria war neugierig und hätte gern gewusst, was hier vorgefallen war, doch sie wagte es nicht, den mürrischen Michel danach zu fragen.
Heftig schnaubend schritten die drei Pferde durch das zerstörte Tor. Beißender Gestank empfing sie. Hunde liefen auf dem Vorhof umher und begrüßten die ankommenden mit lautem Gebell. Die Pferde scheuten, sodass Hans fluchte: »Heinrich, du elender Hurensohn, nimm die verdammten Köter fort!«
Es dauerte einige augenblicke, bis ein Mann angelaufen kam und die Hunde zurückrief. Kinder eilten hinter ihm her.
»Führ dich nicht so auf, Hans! Was willst du hier?«
»Ich will zu Johann!«
»Der ist nicht zu sprechen!«, sagte Heinrich und wollte sich schon wieder umdrehen, als er anna Maria erblickte. Er ging auf sie zu, und sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grienen.
»Was hast du uns hier mitgebracht?«, fragte er und wollte anna Maria an den Oberschenkel fassen.
»Lass die Finger von ihr!«, sagte Hans und führte seine Hand zu dem Messer, das er im Stiefel stecken hatte.
»Ist wohl dein Liebchen!«, feixte der Zahnlose. »Die ist mir sowieso zu dürr! Und jetzt macht, dass ihr verschwindet!«
»Sag Johann, dass ich ihn sehen will!«, ließ Hans nicht locker. »Wenn er hört, warum ich hier bin, wird er sicherlich mit mir sprechen wollen.«
Das schien Heinrich zunächst nicht zu überzeugen, doch dann starrte er auf anna Maria und verstand. Zu den Kindern sagte er: »Lauft und holt Johann!«
Währenddessen saßen die drei Wolfsfänger ab. Wortlos umfasste Michel anna Maria und hob sie vom Pferderücken.
Als sie nach dem langen Ritt endlich wieder mit den Beinen auf dem Boden stand, schmerzten ihr Knie und Rücken von der unbequemen Haltung hoch zu Ross. auch die Innenseiten ihrer Oberschenkel waren wund gescheuert und brannten wie Feuer.
Anna Maria streckte sich und hoffte, dass der Schmerz bald nachlassen würde.
Übelgelaunt blickte Karius zu ihr herüber. Seine Platzwunde am Kopf war mit Blut verkrustet, und seine Lippe war noch immer angeschwollen.
Angewidert wandte sich anna Maria von ihm ab. Ihre Hand hielt den Pilgerstab fest umschlossen, sodass sich ihre Knöchel weiß abzeichneten.
Am abend zuvor hatte Karius versucht ihr zwischen die Beine zu fassen. Sie glaubte noch immer seinen fauligen atem riechen und seine Lippen auf ihrem Hals spüren zu können.
Karius hatte gewartet, bis alle schliefen, und sich dann auf anna Maria gestürzt. Mit der einen Hand hielt er ihr den Mund zu und mit der anderen versuchte er unter ihren Rock zu langen. Sie hatte seinen keuchenden atem dicht an ihrem Ohr gehört
und hatte versucht sich zu wehren, doch er war stärker gewesen. Zum Glück war Hans wach geworden und hatte Karius mit einem Knüppelschlag niedergestreckt. als der vor Schmerzen aufjaulte und den Kopf hob, hatte Hans ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Dabei traf er Karius’ Oberlippe, die sofort angeschwollen war.
Außer sich vor Zorn hatte Hans den jammernden Burschen an den Haaren von anna Maria fortgezogen und ihn angebrüllt: »Horch, was ich dir sage, du Narr! Ich habe gehört, dass nur Jungfrauen Seherinnen sein können. Halte dich von ihr fern, oder ich werde dich töten!«
Zuerst hatte anna Maria erneut widersprechen und erklären wollen, dass sie keine seherischen Fähigkeiten habe. Doch da dieser aberglaube sie, wie es schien, vor Übergriffen schützen würde, hatte sie geschwiegen.
Anna Maria ließ ihren Blick erneut über die Burganlage schweifen, als sie einen Mann auf sich zukommen sah, dem zwei Männer in verschlissener Landsknechttracht folgten. Scheinbar mühelos trugen sie ihre wuchtigen Schwerter, die über ihren Schultern lagen.
»Johann, mein Freund!«, rief Hans ihm entgegen.
Erst als der Fremde dem Wolfsjäger auge in auge
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