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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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und auf einen Balkon getreten waren, hatte sich Liandra zumindest wieder so weit beruhigt, dass sie die geballten Fäuste öffnete. Die kalte Luft um sie herum nahm ihnen den Atem, und sie konnten den Schnee riechen, der bald fallen würde. Lia ging an der Steinbalustrade des langen Balkons auf und ab, mit geröteten Wangen und blitzenden Augen, während die Atemluft in Wolken um sie herumwirbelte
    »Lia, beruhige dich«, tadelte Mystique sie sanft. »Ich habe nicht erwartet, dass alle sich darüber freuen, wenn plötzlich eine Fremde eine so mächtige Stellung in eurer Gesellschaft einnimmt.«
    »Du darfst nicht zulassen, dass sie dich so behandeln. Sie hat recht. Ein Zeichen der Schwäche, und sie werden sich auf dich stürzen wie die Schakale. Du bist nicht so wie wir, und das wissen sie. Wenn du nicht mit Reule zusammen bist, können sie ihren Gefühlen gegen dich freien Lauf lassen, ohne Angst vor Vergeltung. Das heißt, sie können auch gegen dich intrigieren.«
    »Nicht mit Chayne an meiner Seite«, versicherte ihr Mystique. Sie hielt ihre wütende Freundin mit einer Hand auf und zeigte durch ein Fenster in ihrer Nähe. Chayne lehnte an einer Wand und beobachtete sie, während seine hellbraunen Augen belustigt funkelten.
    Lia errötete noch tiefer bei der Vorstellung, dass der Schattenmann der Prima wahrscheinlich die ganze Zeit direkt hinter ihnen gewesen war. »Oh. Das habe ich ja ganz vergessen.«
    »Ich danke dir trotzdem, dass du mich verteidigt hast«, sagte Mystique leise und beugte sich vor, um ihrer Gefährtin einen Kuss auf die Schläfe zu drücken. »Das bedeutet mir sehr viel.«
    »Nun … ich … du warst so freundlich zu mir. Du hast einen schweren Tag ein bisschen leichter gemacht. Es ist fast so, als hätte Amando uns zusammengebracht, und genauso hat er gelebt. Als Gesandter des Primus hat er friedlich Handel mit denen getrieben, die uns nicht leiden können. Das war eine große Gabe.«
    »Nun, heute hast du keine Verträge ausgehandelt.« Mystique kicherte.
    »Nein. Aber ich bin trotzdem zufrieden mit dem Ergebnis.« Sie kicherte auch. »Ich werde normalerweise nicht gleich handgreiflich, aber diese Frau bringt mich zur Weißglut.«
    »Ich fürchte, du hast dir heute jemanden zum Feind gemacht.«
    »Ja. Theodora ist Jocelyns Mutter. Bestimmt hast du bemerkt, wie snobistisch die beiden sind. Theodora hat Jocelyn angestachelt mit ihren Bestrebungen, die Prima-Mutter zu werden. Irgendwie tut mir Jocelyn leid. Ich glaube, sie kann sich nichts anderes vorstellen, als die zukünftige Prima zu sein. Sie verschwendet ihr Leben darauf, nach dem Unmöglichen zu streben. Ich fürchte, sie hat es nicht auf mich abgesehen. Du bist die Bedrohung, Mystique. Du zerstörst alles, was man ihr jahrzehntelang eingeimpft hat. Es könnte sein, dass sie darüber ziemlich böse ist.«
    »Nun, sie unterschätzt mich, wenn sie glaubt, dass ich nicht die Kraft und die Fähigkeiten habe, mich zu verteidigen. Erstens wird Reule nicht zulassen, dass mir etwas zustößt. Und jetzt habe ich auch dich auf meiner Seite.« Mystique drückte sie. »Schau nur. Du hattest recht. Es fängt an zu schneien.«
    Beide Frauen blickten zu den herabschwebenden weißen Flocken hinauf. Liandra lachte, obwohl sie heftig zitterte. »Ich war zehn, als ich zum ersten Mal Schnee gesehen habe. Wir sind durch tropische Gebiete und durch die Wüste, durch Regenwald und dann durch Mischwald gezogen. Jahrelang, bis wir schließlich ins Jeth Valley kamen. Wir kannten keinen Schnee, wir hatten keine Ahnung, wie kalt es tatsächlich werden kann. Wir konnten uns nicht einmal mehr rechtzeitig geeignete Unterkünfte errichten, zumal wir nicht darauf gefasst waren. Sehr viele von uns sind an Unterkühlung und an Krankheiten gestorben. Vor allem die Älteren, die nach den zehn Jahren auf der Flucht schon dem Tode nah waren. Ich war noch ein Kind, aber ich erinnere mich an die Kälte und an den Schnee. Die meisten Sánge hassen ihn. Doch ein paar von uns Jüngeren betrachten den Schnee als Zeichen für unser Überleben und den Neuanfang. Ich weiß, dass es bei Amando so war. Und bei mir ebenfalls.«
    »Das sehe ich«, sagte Mystique voller Bewunderung für das, was die Sánge durchgemacht hatten. Liandra drehte sich zu ihr um und blickte sie direkt an, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen, während sie vor Kälte bebte.
    »Reule hat uns gerettet und uns Hoffnung gegeben. Er hat dafür gesorgt, dass wir überlebt haben. Er war erst zweiundzwanzig. Seine

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