Gabe des Blutes
Eltern sind gestorben, als er sechzehn war, und so wurde er schon als Jugendlicher zum König ernannt. Zum Glück war Darcio da und hat ihn beschützt. Amando … Auf Amando wurde er drei Jahre nach unserer Ankunft in Jeth aufmerksam.«
»Wie denn?«
Sie lachte. »Für diese Geschichte muss ich an einem wärmeren Platz sein.«
»Tut mir leid. Mir macht die Kälte nicht so viel aus. Gehen wir hinein.«
Sie verließen den Balkon, und Mystique berührte anerkennend Chaynes Schulter, als sie an ihm vorbeigingen, und er folgte ihnen und fiel in ihren Schritt ein.
»Amando hasste Streit«, berichtete Liandra. »Jede Art Streit. Für die Ohrfeige hätte er mich heftig gescholten.«
»Stimmt wirklich«, sagte Chayne von hinten. »Er hat immer geschlichtet.«
»Als Jugendliche haben wir in einer größeren Gruppe auf den Feldern gearbeitet, das ganze Dorf, alle, die arbeiten konnten und kräftig genug waren. Eine Menge Leute haben auf unbestelltem Boden und bei jedem Wetter äußerst anstrengende Arbeit verrichtet. Wir waren dankbar für alles, was wir hatten, doch es war kein leichtes Leben. Manchmal war die Stimmung gereizt. Reule war damals berüchtigt für seinen Jähzorn. Er war ziemlich ungestüm und voller Wut. Die Ermordung seiner Eltern hatte ihren Tribut gefordert. Ich nehme an, Darcio konnte ihn an diesem Tag einfach nicht zügeln, und er lieferte sich mit Rye eine wilde Prügelei.«
»Mit Rye?«
Chayne musste lachen. »Rye und Reule können die Prügeleien, die sie hatten, wahrscheinlich nicht mehr zählen. Sie waren vom Charakter her gegensätzlicher, als Ihr Euch vorstellen könnt. Rye ist eine Frohnatur, und Reule ist manchmal so ernst. Unglücklicherweise wusste Rye das ganz genau und hat Reule gern gereizt. Das tut er immer noch, wenn auch nicht mehr so, dass Reule gleich darauf anspringen würde. Ich erinnere mich an den Kampf. Du meinst, wie Amando sich auf Ryes Brustkorb gesetzt und ihn festgehalten hat …«
»Das wollte ich gerade erzählen!«, wies Liandra ihn zurecht. »Mach mir die Geschichte nicht kaputt.«
»’Tschuldigung«, sagte er mit einem Grinsen, in dem sich keine Reue zeigte.
Die Geschichte war voller Humor und voll von Erinnerungen der beiden an einen Mann, der die Gemüter mit vernünftigen und beruhigenden Worten besänftigen konnte. Das war Amandos dritte ’pathische Fähigkeit gewesen. Die Fähigkeit, mit dem besänftigenden Klang seiner Stimme die Wogen zu glätten. Reule hatte den gutmütigen jungen Mann sofort gemocht, und sie waren rasch Freunde geworden. Er hatte auch die anderen bald auf seine Seite gebracht, und als Reule, je nach den Fähigkeiten und Bedürfnissen seines Volkes, Freunde in sein Rudel aufnahm, hatte Amando die Rolle des Gesandten bekommen, unternahm mit Reule weite Reisen, um Handelsrouten in Gegenden aufzubauen, die eigentlich feindliches Gebiet waren.
»Amando hat zum Erfolg von Jeth genauso beigetragen wie Reule«, bemerkte Chayne, und Lias Augen wurden feucht vor Stolz. »Es gab Zeiten, da haben uns einzig und allein seine Fähigkeiten dazu gebracht, zusammenzuhalten, und Schaden von uns abgewandt.«
»Mystique.«
Die Gruppe blieb stehen, als Rye auf einmal vor sie trat. Mystique hielt den Atem an und fasste sich instinktiv an den Hals, während sie zu Ryes ernsten blauen Augen aufblickte.
»Ich würde gern unter vier Augen mit Euch sprechen, wenn Ihr so freundlich wärt«, sagte er höflich. Doch etwas an seiner Haltung kam ihr steif und bedrohlich vor. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin gerade beschäftigt«, sagte sie kurz angebunden. Sie merkte, wie Chayne näher trat, doch sie spürte seine Verwirrung über die Situation. Sie hatte Angst, innerhalb des Rudels einen Konflikt auszulösen, wo seine Mitglieder doch bereits von Amandos Tod so mitgenommen waren. Mit einem Seufzen berührte sie Chayne besänftigend. »Na gut. Wir unterhalten uns. Chayne, Lia, entschuldigt uns einen Moment.«
Rye trat beiseite und streckte eine Hand aus, um ihr den Weg zu einem kleinen Raum jenseits des Flurs zu weisen. Gleich hinter der Tür blieb sie stehen und sah nervös zu, wie er sie schloss. Sie sagte sich, dass zwei ’Pathen draußen warteten und sie nichts zu befürchten hatte.
»Also, Rye?«, forderte sie ihn auf und begegnete seinem kalten Blick. Sie spürte, dass er noch nicht wieder der unbekümmerte Mann war, den sie kennengelernt hatte.
»Wenn ich es recht verstehe, seid Ihr wegen unserem kleinen Zusammenstoß heulend zu Reule gelaufen?«,
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