Gabe des Blutes
Darcio tätschelte Fits Flanke, als sprächen sie über etwas ganz Belangloses, und nicht über Leben, Tod und Schicksal.
»Gut«, sagte Reule knapp und blickte seinen Freund ernst an. »Ich liebe sie, Darcio. Niemand, auch keine Armee, wird sie mir jemals wegnehmen.«
»Nun, vielleicht ist dir das erst jetzt klar geworden«, sagte Darcio mit einem Schnauben, »aber dein Rudel hat es schon vor ein paar Tagen herausgefunden.«
Mit dieser Bemerkung drehte sich Darcio um und schwang sich in den Sattel. Reule blickte ihn an, während eine gewisse Belustigung seine angsterfüllten Züge durchzuckte. Er griff nach Fits Zügeln und saß ebenfalls auf. Er tätschelte den Widerrist des Pferdes. »Komm, alter Freund. Wir müssen unsere Dame beschützen.«
Fit schüttelte den Kopf und wieherte zustimmend.
»Das ist doch lächerlich, Chayne! Warum wollt Ihr mir nicht sagen, was los ist?«, fragte Mystique wütend, während sie in Reules privatem Wohnzimmer auf und ab ging.
»Reule wird jeden Moment hier sein«, versicherte er ihr.
Mystique starrte ihn an. Er stand da wie eine Schildwache – ein Gefängniswärter –, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine – die sie geheilt hatte – gespreizt.
»Ach, kommt schon, Mystique«, knurrte er, »das ist nicht fair.«
Er hatte recht. Es war nicht fair. Er beschützte sie nur und tat das, worum Reule ihn gebeten hatte. Sie ging zu ihm und legte ihm liebevoll die Hand auf die Wange. »Es tut mir leid, Chayne. Verzeiht mir.«
»Mystique …« Der unerschütterliche Mann errötete bei dieser Zuneigungsbekundung wie ein Junge, der vor allen Freunden von seiner Mutter geküsst wird. Sie kicherte und küsste ihn auf die Wange, denn sie wusste, dass es ihm gefiel, auch wenn er es ihr oder den anderen gegenüber nicht zeigte.
»Und ich nehme Eure Entschuldigung an, obwohl es nicht fair ist, meine Gedanken zu lesen«, betonte sie. »Ich dachte, es gäbe bestimmte Verhaltensregeln, was das betrifft.«
»Ja also, die Regeln ändern sich, wenn … ähm …«, er zögerte, dann seufzte er, »wenn Gefahr droht.«
»Verstehe.« Sie ließ den wesentlichen Inhalt seines Satzes außer Acht und konzentrierte sich auf die Etikette. »Ihr wollt also sagen, wenn das Rudel in Alarmbereitschaft ist, ist das Lesen der Gedanken um Euch herum hinnehmbar?«
»Ganz automatisch, in der Tat. Natürlich nicht alle auf einmal, weil uns das überfordern würde, doch es ist wirkungsvoller, als zu sprechen. Wusstest Ihr, dass die Sánge jahrhundertelang keine gesprochene Sprache hatten?«
»Nein«, sagte sie ehrlich fasziniert.
»Wir sind alle Telepathen. Es war nicht nötig. Als dann aber andere Spezies unseren Weg kreuzten …«
Die faszinierende Geschichtsstunde über die Sánge endete, als die Tür aufflog und Reule den Raum betrat.
»Schattenmann.«
Es war ein scharfer Befehl. Chayne und auch Darcio verließen eilig den Raum und schlossen die Tür hinter sich. Mystique blickte ihn mit zusammengezogenen Brauen besorgt an. Reules Herz krampfte sich zusammen, als sie ihn anblickte und die Nervosität durch ihre emotionale Aura schimmerte. Er konnte nichts anderes denken, als wie schön sie doch war. Die sanft geschwungenen Wangen, der Glanz ihrer diamantähnlichen Augen, und die edle Blässe ihrer Haut, von der er wusste, dass sie überall an ihrem Körper glatt und makellos war. Dieser Körper, den er inzwischen besser kannte als seinen eigenen. Den Geruch. Die unterschiedlichen Düfte. Die wundervolle Wärme.
Reule warf Umhang und Handschuhe beiseite und war mit drei großen Schritten bei ihr. Er riss sie an sich und bedeckte ihren Mund mit seinem. Ohne zu zögern fasste sie ihn am Nacken und öffnete ihren Mund. Er umschlang sie fest mit den Armen, während er ihren Geschmack und ihre Wärme in sich aufnahm. Er fühlte sich, als hätte er die ganze Welt durchquert und nicht nur die Stadt, um zu ihr zu kommen. Es war, als hätte ihr tagelanges Liebesspiel in einem anderen Leben stattgefunden und nicht erst vor ein paar Stunden.
Nachdem er ihren Mund gespürt hatte, vergrub er das Gesicht an ihrem Hals und machte ein paar tiefe Atemzüge, die von ihrem süßen Duft erfüllt waren. »Mystique«, stieß er plötzlich hervor und schloss die Augen.
»Reule, bitte«, bat sie ihn leise, während sie ihm durchs Haar strich, »du machst mir Angst.«
Das war das Letzte, was er wollte. Er wollte sie beruhigen, ihr erzählen, dass sie nie wieder Angst vor jemandem haben müsse, so wie er es ihr
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