Gabe des Blutes
war dem Schattenmann des Primus unter die Haut gegangen. Sie standen im Schneematsch im Hof und warteten darauf, dass die Stallburschen ihre Tiere brachten.
»Dieses Mädchen hat etwas an sich, was mich … verwirrt«, sagte Darcio rasch, als würde ihn dieses Bekenntnis zusätzlich verwirren.
»Ist es etwas ganz Bestimmtes? Ein ’pathisches Problem vielleicht? Oder ist ihr Verhalten dir gegenüber unangemessen?« Vielleicht hatte die junge Frau ihre Meinung geändert und ihre Gefühle schließlich doch gezeigt. Reule hielt das für unwahrscheinlich, doch sein Begleiter benahm sich beinahe so, als wäre es der Fall gewesen.
»Ich bin kein Mädchen, das beaufsichtigt werden muss«, fauchte Darcio gereizt.
»Das habe ich auch nicht behauptet«, sagte Reule und unterdrückte ein Grinsen, während Darcio sich in die Sache hineinzusteigern schien.
»Ich habe einfach das Gefühl, dass dieses Mädchen ein ziemliches Durcheinander in unserem Leben anrichten wird, wenn sie öfter hier ist. Denk an meine Warnung, Reule. Saber kann vielleicht Gefahr spüren, aber ich kann Ärger spüren, und sie macht eine ganze Menge Ärger.«
Vielleicht noch mehr, als Darcio bewusst ist, dachte Reule belustigt. Er fragte sich, warum das ausgerechnet jetzt ein Thema war. Liandra war immer zu Besuch im Turm gewesen, wenn Amando von seinen Reisen zurückgekehrt war. Warum sollte Darcio ausgerechnet jetzt ein Problem mit ihr haben? Was hatte sich geändert?
Amando war tot.
Und plötzlich lag es auf der Hand. Solange Amando beim Rudel gewesen war, war es aus Gründen der Ehre undenkbar, dass ein Rudelmitglied in Liandra etwas anderes sah als die kleine Schwester eines der ihren. Dieser Schutz existierte jetzt nicht mehr. Es war Darcio vorher nie in den Sinn gekommen, dass Liandra als mögliche Befriedigung seiner Bedürfnisse infrage kommen könnte. Reule nahm an, dass sie unbewusst seine Aufmerksamkeit wahrnahm, und seine spontane Reaktion war diese Abwehrhaltung. Wenn man Darcios Verpflichtungen betrachtete und seine Ansichten über Beziehungen, würde aus dieser Situation nichts entstehen. Doch jetzt wäre es unterhaltsam, dabei zuzuschauen, wie der Schattenmann geistig durch ein paar Reifen sprang. Sein alter Freund war insgeheim stolz auf seine Unerschütterlichkeit, und es wäre lustig zu sehen, wie er aus dem Gleichgewicht geriet.
»Ich werde deine Warnung im Kopf behalten«, gelang es Reule mit unbewegter Miene zu sagen, als Fit gebracht wurde, »doch solange du kein konkretes Beispiel für den schlechten Einfluss von Liandra hast, ist sie mir willkommen.«
Reule beendete die Diskussion, indem er sich auf Fit schwang und in den tiefen Schnee hinausritt, der die Stadt einhüllte wie eine weiße Decke.
Liandra trat vom kalten Glas der Fensterscheibe zurück und zitterte. Mystique sah nach einem jungen Mann, der in den Sturm geraten und vor einer Stunde halb erfroren gebracht worden war.
»Sie sind weg. Ich sage dir, Mystique, da stimmt etwas nicht. Nicht einmal das Rudel reitet bei so einem Wetter freiwillig hinaus. Ich kann Reule nicht einschätzen, aber Darcio war ziemlich angespannt.«
»Darcio ist immer angespannt«, bemerkte Mystique trocken, während sie sich neben Liandra stellte und selbst einen Blick aus dem Fenster warf. Sie sah die Männer, wie sie unter dem Fallgitter hindurchritten. Doch als das Fallgitter hinter ihnen heruntergelassen wurde, obwohl es mitten am Tag war, biss sie sich ein wenig besorgt auf die Lippen. »Was könnte Reule so beunruhigen, dass er das Burgtor mitten am Tag schließen lassen würde? Wir sind am Ende einer kilometerlangen Stadt.«
»Es ist seine Angewohnheit, rechtzeitig Schutzmaßnahmen zu ergreifen«, bemerkte Liandra, während sie ihr die Hände auf die Schultern legte. »Reule erinnert sich noch zu gut an die Gefahren, denen wir ausgesetzt waren, als wir uns hier niedergelassen haben.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Doch Mystique hatte plötzlich einen Knoten im Bauch. Schauer fuhren ihr auf einmal über den Rücken, und sie zitterte.
»Komm hier weg. Durch die Fenster hat man zwar einen schönen Blick. Aber sie sind zugig.«
Mystique ließ sich von Liandra von der Fensterfront wegziehen. Doch sie blieb unvermittelt stehen, als ihr Blick auf Chayne fiel. Die Anspannung, die in Chaynes ganzem Körper zu spüren war, war ein Zeichen für den Ernst der Lage. Seine Anwesenheit war nie aufdringlich, und er war tatsächlich zu ihrem Schatten geworden, zwar anwesend, doch kaum
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