Gabe des Blutes
jemandem, der so züchtig war, dass sich im Hof zwischen dem Rudel und den Arbeitern, die herumstanden, augenblicklich ein anzügliches Flüstern erhob.
Reule musste sie festhalten, damit sie nicht mit ihm zusammenprallte. Sie war sichtlich verlegen, weil sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog. Ihr elfengleiches Gesicht brannte vor Röte, und er glaubte nicht, dass es nur von dem anstrengenden Spurt über den Hof kam.
Reule hielt die Hauswirtschafterin fest und stieß über die Schulter ein mahnendes Knurren zu den lachenden Männern aus, die sich noch immer über sie belustigten. Bis auf ein unterdrücktes Kichern hier und da verstummten sie, doch beobachteten sie die beiden aufmerksam, während Para Atem holte, um zu sprechen.
»Schon gut, Para«, sagte Reule, »was ist los?«
»Das Mädchen …«, keuchte sie.
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Ihre Besorgnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Während er sich dafür verfluchte, dass er es nicht früher bemerkt hatte, ließ Reule Para stehen und rannte zum Wohnturm. Er hatte seinen Gast seit drei Tagen nicht gesehen; sie hatte die ganze Zeit geschlafen, und Para hatte sie nur zum Essen geweckt, woraufhin sie wieder erschöpft in Schlaf sank. Er hatte allerdings jedes Mal an ihrer tiefen Traurigkeit bemerkt, wenn sie wach war.
Doch diesmal hatte er es nicht mitbekommen, und so wusste er nicht, was los war. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, Paras Gedanken zu lesen, er war zu sehr auf sein Ziel konzentriert, während er die Treppe hinaufrannte. Er hatte kaum die ersten Stufen genommen, als er die Schreie hörte. Sie durchfuhren ihn und jagten ihm einen Schauer über den Rücken, während er drei, vier Stufen auf einmal nahm. Reule stürmte in ihr Zimmer und sah, wie Tetra hilflos die Hände rang und dabei zusah, wie das Mädchen sich schreiend im Bett herumwarf.
»Hinaus!«, befahl er grob und erschreckte das junge Mädchen mit seinem barschen Ton wahrscheinlich halb zu Tode. Doch er konnte nichts dagegen tun. Sein Herz schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus, als er nach der Bettdecke griff und sie wegzog. Er packte die gepeinigte Frau mit seinen großen Händen an den Oberarmen, während sie schreiend den Kopf zurückwarf und ihr die Tränen aus den geschlossenen Augen strömten.
Drei Tage voller guter Vorsätze gingen in diesem Augenblick zum Teufel, als er sie an den Armen packte und sie an sich zog. Er achtete nicht auf die Schreie, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, und presste sie an sich.
»Ganz ruhig, Kébé «, flüsterte er ihr beruhigend ins Ohr. »Du bist in Sicherheit. Du bist bei mir. Ruhig, Schätzchen.«
Reine Telepathen und Empathen hatten keinen Zugang zu den Gedanken oder Gefühlen eines Träumenden. Nur die Traumdeuter hatten über die Träume Zugang zum Unterbewusstsein eines anderen, und das war eine ebenso seltene Gabe wie seine Gabe der Gedankenübertragung. Jedes Mal, wenn sie einschlief oder bewusstlos war, war es, als würde man eine Verbindung unterbrechen, die erst wieder funktionierte, wenn sie erneut wach war. Aus diesem Grund konnte er außer dem, was er über ihren Körper wahrnahm, nichts spüren, obwohl sie litt und panische Angst hatte. Ihr Herzrasen. Ihre Tränen. Die Stimme, die beinahe versagte vor Panik. Und jetzt ihre Hände, die am Rücken so fest in sein Hemd krallten, dass er hörte, wie es zerrriss.
»Wach auf«, bat er sie leise flüsternd. »Bitte wach auf. Du kannst dich ganz sicher fühlen bei mir«, sagte er drängend, und sein beschleunigter Herzschlag war nichts im Vergleich dazu, wie heftig ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmerte.
Reule schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Fähigkeit der Gedankenübertragung. Er sammelte die ganze Kraft und Sicherheit, die er in seinem Zuhause verspürte, umgeben von seinem Rudel und bewundert von seinen Leuten. Er formte sie zu einem Richtungspfeil, den er dann sirrend in ihr Herz und in ihren Verstand schoss, in der Hoffnung, er würde sie irgendwie berühren. Unbarmherzig und mit ungeheurer Willenskraft bohrte er den Pfeil in sie hinein. Er gab ihr seine Gefühle, um sie zu stärken. Zumindest hoffte er das. Er hatte noch nie versucht, Gedanken auf eine schlafende Person zu übertragen.
Sie hatte sich heiser geschrien, doch er wusste sofort, dass das nicht der Grund war, warum sie unvermittelt abbrach. Das Schreien hörte so plötzlich auf, als wäre es erstickt worden. Und auf einmal wurde Reule von Trauer und
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