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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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bemerken würde. Sie holte tief Atem und legte eine Hand auf Chaynes blasses, schweißnasses Gesicht. Sie sah einen Moment lang auf ihn hinunter, schloss die Augen und stellte sich sein Gesicht vor. Seine Augen waren geschlossen, doch sie wusste, dass sie hellbraun waren, mit kleinen schwarzen Punkten am Rand. Sie konnte sie sehen und den verblüffenden Kontrast, den sie zu seinem vollen kastanienbraunen Haar bildeten. Seine Hautfarbe war eigentlich braun. Die fiebrige Blässe war Totenblässe. Dieser Sánge befand sich auf der Schwelle des Todes.
    »Nicht, wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe, Sánge«, flüsterte sie über ihn gebeugt.
    Sie ließ ihre Hand über seinen Hals bis zu seinem Brustbein gleiten. Sie stellte sich seine Schultern vor, die zerfleischten Arme und seine breite behaarte Brust.
    »Schhh«, hauchte sie leise, um den Protest zu unterbinden, der in Reules Kehle aufstieg, während er mit blitzenden Augen zusah, wie ihre kleine Hand beinahe sinnlich über den Körper eines anderen Mannes glitt. Es war ein lächerlicher Impuls, sich von einem bewusstlosen Mann bedroht zu fühlen, vor allem wegen der Berührung einer Frau, auf die er nicht den geringsten Anspruch hatte! Doch es gelang ihm nicht, seinem Besitzanspruch mit Logik beizukommen, als ihre Fingerspitzen über Chaynes nackten Bauch glitten.
    »Was macht sie da?«, fragte Delano verwirrt.
    »Ich weiß es nicht!«, erwiderte Reule.
    Dann nahm sie die zweite Hand dazu, und Reule musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu knurren, als sie mit den Fingerspitzen über Chaynes Hüften und an seinen Beinen entlangstrich. Erst bei seinen Knien hielt sie inne und umfasste dann seine Schienbeine gleich über den schrecklichen Wunden, die Nägel und der Wundbrand angerichtet hatten. Der Gestank war, obwohl sie ihn gesäubert hatten, durchdringend, und Reule fragte sich, wie sie das so lange aushalten konnte. Sie war wirklich eine erstaunliche Frau, seine Kébé .
    Er begriff noch immer nicht, was sie eigentlich bezweckte. Sie sah nicht einmal hin bei dem, was sie tat. Trotzdem entspannte sich Reule und fühlte sich besser, als sie die Hände auf eine harmlose, nicht erogene Stelle legte. Er konzentrierte sich kurz auf Chayne, um sicherzugehen, dass der immer noch fest schlief.
    Er blickte erst wieder zu Mystique, als Delano ihn an den Schultern packte und fest schüttelte. Er folgte Delanos stummer Geste zu den kleinen Händen.
    Da, direkt vor seinen verwunderten Augen, verwandelte sich Chaynes Sehne von fauligem Schwarz, Braun und Grün in rosiges, gesundes Bindegewebe. Reule blickte in das kleine blasse Gesicht der Fremden, die er in seine Stadt gebracht hatte, und fragte sich, welcher Stern auf ihn herabgeschienen hatte, dass er ein so ungewöhnliches Geschenk an einem so seltsamen Ort wie einem verrottenden Dachboden gefunden hatte.
    »Du meine Güte«, flüsterte Delano.
    Reule brauchte seinen Rudelgefährten nicht anzuschauen. Er konnte Delanos Dankbarkeit spüren. Und das vor einer Frau, die Chaynes Bruder noch vor weniger als einer Stunde hatte töten wollen. Stattdessen hielt Reule seinen Blick unbeirrt auf Mystiques Gesicht gerichtet. Es gab eine Regel, die jedes ’pathisch begabte Wesen kannte: Wenn man große psychische Kräfte einsetzte, kostet das stets einen hohen Preis. Bei ihm selbst war es nicht so sehr die Telepathie oder die Empathie, die ihren Tribut forderte. Diese waren im Grunde ganz natürlich und nicht einmal so anstrengend wie ein kurzer Sprint.
    Doch seine Fähigkeit der Gedankenübertragung war etwas völlig anderes. Es strengte ihn doppelt, manchmal dreimal so viel an wie seine anderen Fähigkeiten, und es verbrauchte ebenso viel Energie, sie einzusetzen, wie sie nicht einzusetzen. Seine Kerze brannte so gesehen also an beiden Enden.
    Schon nach dem unerwarteten telemetrischen Vorfall war Mystique erschöpft gewesen. Es war noch zu früh nach ihrem Martyrium in der Wildnis, eine solche Heilung durchzuführen, doch er konnte auch nicht etwas unterbinden, was wahrscheinlich als Einziges Chaynes Leben retten konnte.
    »Eine echte naturheilkundliche Fähigkeit«, telepathierte Delano ehrfürchtig. »Reule, in diesem Stamm hat es seit der Geburt deiner Eltern keinen Naturheilkundler mehr gegeben. Wo zum Teufel kommt sie her? Das ist keine Sánge.«
    »Nein. Sie hat keine telepathischen Fähigkeiten und keine echte Empathie außerhalb des normalen Empfindens. Alle Sánge aber haben beides. Nein, sie ist etwas anderes

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