Gabe des Blutes
Es war noch nicht perfekt. Seine Knochen waren noch nicht vollständig geheilt, und seine Wunden hatten sich noch nicht geschlossen, doch der Heilungsprozess konnte nun vonstattengehen, und sie zeigte Reule und Delano, wie sie die Wunden verbinden sollten. Das würde fürs Erste genügen, bis sie wieder die Kraft hätte, zu ihm zurückzukommen.
Jetzt war ihre Kraft …
Aufgebraucht.
Reule war bereits aufgestanden und an das Fußende von Chaynes Bett getreten und kniete nun hinter Mystique, für den Fall, dass sie seine Hilfe brauchte. Diesmal öffnete er sich ihr nach und nach und versuchte ganz vorsichtig, sich an das seltsame Durcheinander ihrer Gedanken heranzutasten. Es war, als hätte sie sich in Trance versetzt, doch zu seiner Enttäuschung war alles, was er von ihr sehen konnte, ein heller roter Nebel.
»Reule!«
Reule blickte zu Rye und folgte dann dessen Blick zu Mystique. Einen Moment lang sah Reule zu, wie die ekelhafte Flüssigkeit neben seinem Knie auf den Boden zu tropfen begann. Verwirrt verfolgte er deren Weg zurück bis zum Ärmel ihres Kleids, zu ihrem Ellbogen, ihrem Unterarm. Er schwankte, als ihm klar wurde, dass die Flüssigkeit aus ihrem Körper kam und nicht aus Chaynes. Tatsächlich sah er direkt vor seinen Augen zwei Wunden, die in ihrem Fleisch klafften und die schwere Krankheit absonderten. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz, und er packte sie, kurz bevor sie nach hinten kippte.
Alles, was er in diesem Moment wahrnahm, war das Bild ihres durchtränkten Kleides. Er umfasste ihren schlaffen Körper mit einem Arm und riss sie hoch, bis er seinen schrecklichen Verdacht bestätigt sah. Zwei grässliche Wunden, fast so lang und so breit wie die Knochen selbst, hatten sich an ihren Schienbeinen gebildet. Diese nässten ebenfalls, und Reule spürte ein Grauen, wie er es nicht mehr gespürt hatte, seit er die Leichen seiner geliebten Eltern entdeckt hatte.
Sie hatte die ganze Zeit gekniet, schrie sein Verstand. Er hatte gehört, wie sie aufstöhnte vor Schmerz, als sie auf den schrecklichen Wunden gekniet hatte. Sie hatte es getan, damit sie weitermachen und noch mehr Schmerz in sich aufnehmen konnte. Jetzt lag sie in seinen Armen wie eine leblose Puppe, ihr Atem rasselte, und ihre Haut war bleich und klamm. Ihr wunderschön hochgestecktes Haar war wie ein Stück Perfektion an einem Körper, der von Krankheit durchsetzt war.
Reule zog sie an sich und wärmte sie, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Warum hatte er das nur zugelassen? Würde sie jetzt sterben, nachdem sie das Gift aus Chaynes Körper in sich aufgenommen hatte? Hatte er danebengesessen und bereitwillig zugelassen, dass sie ihr Leben in die Waagschale warf … weil er ein anderes Leben über ihr Leben gestellt hatte?
»Um Himmels willen. Ich bete, dass es nicht so ist«, flüsterte er an ihrer blassen Wange.
»Mein Primus«, sagte Amando ganz leise, während er beruhigend die Hand auf Reules Schulter legte. »Verzweifle nicht. Wenn sie eine Naturheilerin ist, wird sie sich schnell erholen. Sie braucht nur Ruhe. Meine Großmutter war eine der letzten Naturheilerinnen in der Geschichte der Sánge. Ich bin mit den Geschichten über ihre Heilkräfte aufgewachsen. Sie heilen, doch Körper und Geist haben eine Art Sicherheitsventil, das dichtmacht, wenn sie zu weit gehen. Naturheiler können keinen Schaden nehmen, wenn sie heilen. Das wäre ein Widerspruch im Plan der Natur.«
»Du nennst das keinen Schaden nehmen?«, fauchte Reule und zeigte auf die offenen Arme und Beine und auf das Gift, das sie ausschieden.
»Man nennt das imitieren, Reule«, sagte Amando vorsichtig. »Der Körper des Heilers imitiert die Wunden des Patienten, um eine oder mehrere Stellen zu schaffen, durch die das aufgenommene Gift ausgeschieden werden kann. Das ist eine sinnvolle Sache. Sonst würde das Gift in ihr bleiben und sie töten.«
»Schluss!« Reule erhob sich, das kleine Bündel auf den Armen. »Ich bringe sie in mein Bad. Ihr kümmert euch um Chayne.«
»Soll ich Para zu dir schicken?«, fragte Rye, während Reule zur Tür ging. Sein Primus blieb stehen und warf einen stechenden Blick über die Schulter.
»Wozu zum Teufel?«, fragte er.
»Oh … äh … nichts. Mein Fehler«, sagte Rye rasch und hob beschwichtigend die Hände.
Reule knurrte und stürmte hinaus.
7
In letzter Zeit schienen sich die Ereignisse zu wiederholen.
Das war Reules einziger Gedanke, als er Mystique auf die Bank neben dem dampfenden Bad
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