Gabe des Blutes
Atem. Er blickte hinab in ihre sanften Augen, während er Atem zu holen versuchte. »Das tue ich nicht«, sagte er heiser. »Ich würde dich nie so demütigen. Ich glaube nur nicht …«
»Du willst mich nicht küssen?«
»Zum Teufel noch mal! Kébé , darum geht es doch gar nicht!«
»Liegt es daran, dass du ein Sánge bist?«
»Unter anderem, ja«, sagte er barsch. Er veränderte seinen Griff, sodass er ihren anderen Arm ins Wasser tauchen konnte. Er nutzte die Geschäftigkeit dazu, den Blick von ihr zu wenden. Sie war so direkt, so unverblümt. Er brauchte sie nicht ’pathisch zu lesen, wenn sie zusammen waren. Es war beeindruckend. Das gefiel ihm sehr.
»Du scheinst deiner Sánge-Herkunft ablehnend gegenüberzustehen«, stellte sie leise fest.
»Das stimmt nicht«, bellte er und richtete den Blick erneut auf ihre fragenden Augen. »Ich bin sehr stolz darauf, ein Sánge zu sein. Ich würde die Erinnerung an meine Eltern nie beschmutzen, indem ich undankbar wäre für das Leben und die Kultur, in die sie mich hineingeboren haben. Ich bin zufrieden damit, wer ich bin, und ich bin ausgesprochen stolz auf meinen Stamm.«
Mystique drehte sich so, dass sie sich auf seinen Oberschenkel setzen konnte und ihre Nase auf gleicher Höhe war wie seine, während sie ihm tief in die Augen blickte. So tief, dass er das Gefühl hatte, er selbst wäre es, der vollkommen nackt war. Er spürte, wie ihr warmer Atem über sein Gesicht und sein Kinn strich. Darin lag eine Vertrautheit, die in ihm das Bedürfnis weckte, ihrem Wunsch zu folgen. Der Herr wusste, wie sehr er von Anfang an ihren Mund auf seinem gewollt hatte.
»Warum dann?«, fragte sie. »Warum macht es einen Unterschied, dass du ein Sánge bist? Oder warum glaubst du, dass es einen macht?«, berichtigte sie sich.
»Weil es kaum ein Volk gibt, dass die Sánge nicht verachtet, Kébé . Und du könntest sehr wohl einem davon angehören.«
»Ich treffe meine eigenen Entscheidungen«, sagte sie mit einem Schulterzucken.
»Das kannst du gar nicht«, knurrte er mit unterdrückter Wut. »Du weißt nicht, wer du bist. Oder was du bist. Mit wem du vielleicht vermählt bist. Wessen Mutter du vielleicht bist. Herrgott, Mystique, fragst du dich denn gar nicht, ob dich womöglich jemand vermisst? Es muss jemanden geben. Eine so schöne, machtvolle und faszinierende Frau wie du kann nicht unbeachtet und unbemerkt bleiben!«
»Nun, du machst das ziemlich gut«, entgegnete sie.
»Mystique«, warnte er sie barsch.
»Ich will dich etwas fragen, mein Primus«, fauchte sie, und der Atem ihrer scharfen Worte strich über seinen Mund, während sie ihren dicht an seine Lippen heranschob. »Wenn du dir mein früheres Leben vorstellst, welchen Teil davon würdest du bewahren wollen? Die Leute vielleicht, die zugelassen haben, dass ich in eine solche Gefahr gerate? Würdest du ihnen meine Sicherheit noch einmal anvertrauen?« Sie senkte die Lider, während sich eine schläfrige Sinnlichkeit auf ihre Züge legte, als sie ihm die Arme um den Hals legte. »Vielleicht habe ich mit einem Mann geschlafen, der mich geschlagen und zurückgelassen hat, weil er dachte, ich sei tot. Wenn er mein Gemahl war …«
»Es reicht!«
Das Brüllen kam aus seinem tiefsten Inneren. Mystique spürte, wie es sich mit einem schwachen Zittern aufbaute und sich dann in einer Explosion aus angestauter Wut entlud. Die psychische Wucht traf sie wie ein körperlicher Schlag, und sie stöhnte auf und zuckte in seiner Umarmung zurück. Er hielt sie automatisch fester, damit sie nicht noch weiter von ihm abrückte.
Sie hatte ihn absichtlich provoziert und ihn damit bei seiner Ehre gepackt. Es war egoistisch, wie sie wusste, doch sie brauchte ihn. Sie brauchte ihn immer. Wie konnte er nur so außergewöhnliche ’pathische Kräfte haben und gleichzeitig so ignorant sein, was ihr Verlangen betraf, das fortwährend nach ihm schrie?
Jetzt, so erschöpft, hatte sie keine Kontrolle mehr über die Bedürfnisse und Impulse, die nach ihm schrien. Dieser Schmerz war viel intensiver als der von den Wunden an Armen und Beinen. Daher hatte sie ihm, als er gefragt hatte, wie er ihr helfen könnte, ganz aufrichtig geantwortet. Und sie verspürte als Erstes ein Gefühl der Erleichterung, als er sie endlich an seinen Mund zog.
Seine Wut über die Bilder in seinem Kopf, die sie ausgelöst hatte, machte es ihm unmöglich, zärtlich zu sein. Seine fordernden Lippen verrieten, dass ihm seine Niederlage bewusst war. Doch das spielte
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