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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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hatte sie Chaynes Herz und gewiss auch seinen Geist kennengelernt. Doch fairerweise musste man sagen, dass Chaynes Wunsch nach Sterbehilfe da zum ersten Mal explizit formuliert worden war. Bis zu diesem Moment hatten alle nur gewusst, was der Instinkt ihnen gesagt hatte. Der Instinkt und eine uralte Freundschaft. Doch es stimmte, dass es letztlich auf Reule ankam. Als Rudelgefährte war es Reules Entscheidung, Chaynes Leben zu beenden oder nicht. Es war Teil des Schwurs, den sein ganzes Rudel abgelegt hatte, als es sich ihrem Rudelführer bedingungslos verpflichtet hatte.
    »In Wahrheit habe ich keine Antwort darauf. Und auch keine Ausrede. Es ist schwer, die Gedanken eines kranken Mannes zu lesen, Kébé . Du bist keine Telepathin oder Empathin, deshalb verstehst du nicht, wie schwer es ist, die wahren Wünsche von dem zu trennen, was ein Verstand herausschreit, wenn er von Schmerzen und Fieber gepeinigt ist. Ich habe Chaynes Wünsche noch rechtzeitig erkannt. In ganz kurzer Zeit«, fügte er hinzu. »Ich wusste, dass der Moment kommen würde, wo ich für ihn einstehen musste. Chayne wird das ebenfalls wissen. Ich hätte ihn nicht im Stich gelassen. Aber ich hätte ihn auch nicht zu früh gehen lassen, wenn auch nur die geringste Hoffnung für ihn bestanden hätte. Wie sich herausgestellt hat, bestand Hoffnung.« Reule strich ihr mit dem Daumen über die Wange. »Vielleicht wusste ich irgendwie, dass es sich lohnen würde, zu warten. Vielleicht war ich …«
    Reule hielt inne, und Mystique neigte neugierig den Kopf, als sein zärtlicher Blick sich auf einmal verschloss, als hätte er sie alleingelassen. Sie legte eine ihrer kleinen Hände auf sein Gesicht, während sie näher kam und mit ihren geröteten Lippen sanft über seine strich.
    »Vielleicht warst du was ?«, drängte sie ihn und sah ihn aufmerksam an, während er langsam wieder in die Gegenwart fand.
    Reule antwortete ihr nicht. Er war wie gebannt von der Zärtlichkeit, die in ihren facettierten Augen schimmerte. Er war sprachlos, als ihn die Erkenntnis traf, dass sich etwas Grundlegendes in seiner Sphäre geändert hatte, seit es sie gab. Er hatte in seinem Leben immer so gehandelt, als wäre er in Wartestellung. In Wartestellung, das Leben und Treiben in Jeth zum Erfolg erklären zu können. In Wartestellung auf den richtigen Zeitpunkt, eine Gemahlin zu nehmen und Nachkommen zu zeugen. Auf die nächste Herausforderung. Darauf, dass die Sánge von der Außenwelt akzeptiert würden. Das waren Ziele, denen er große Bedeutung beimaß, weshalb es wichtig für ihn war, alles zum richtigen Zeitpunkt zu tun.
    Jeder, der schon einmal einen steilen Berg hinaufgestiegen war, kannte das Gefühl gut. Ein fortwährendes Sich-Antreiben, ein Verlangsamen der natürlichen Geschwindigkeit und Beweglichkeit, um den Anstieg zu bewältigen und gegen die Last des eigenen Gewichts anzukämpfen. Das war es, was der Primus von Jeth jeden Tag empfand, wenn er den steilen Weg für sein Volk ging. Es war Ehrgefühl. Es war Notwendigkeit. Es war sogar Liebe.
    Doch plötzlich, in diesem Moment, war es so, als wäre die Steigung weniger und leichter geworden. Er hatte es nicht gleich gemerkt, weil so viel auf einmal passiert war.
    Aber, oh, jetzt spürte er es. Wie das Klingen einer gläsernen Glocke in seinem Kopf spürte er den Widerhall. Etwas hatte sich verändert. Etwas hatte sich entspannt und die Arme zu einem freundlichen Willkommen ausgebreitet. Doch es war etwas, das er sich verdienen musste, dessen war er sich bewusst, und sobald er es sich verdient hätte, würde er es wertschätzen müssen. Ein Geschenk. Unbezahlbar und wunderschön.
    Und es saß tatsächlich auf seinem Schoß.
    In diesem Moment wusste Reule, dass sie keinen Gemahl hatte. Und keine Kinder. Es war eine unerschütterliche Gewissheit, obwohl er keinen Beweis hatte. Er wusste einfach, dass sie niemandem gehörte.
    Niemandem außer ihm.
    Mystiques Atem stockte, als Reules nachdenklicher Ausdruck zu dem eines besitzergreifenden Jägers wurde. Er lächelte sie an, und das kurze Aufblitzen der glatten weißen Zähne jagte ihr einen kalten Schauer über den Körper, obwohl sie sich in ziemlich warmem Wasser befand.
    »Ich denke«, sagte er in leisem und konzentriertem Tonfall, »dass ich dich ins Bett bringen sollte. Man hat mir gesagt, dass Ruhe das beste Mittel sei, damit du gesund wirst.«
    »Reule, ich bin nackt. Du kannst mich so nicht durch deine Behausung tragen.« Sie lachte.
    »Ich denke«, sagte er mit

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