Gabriel - Duell der Engel
und betrachteten die Sonne. Seraphin schien sehr ruhig, fast schon melancholisch in sich zurückgezogen. Ich wurde immer nervöser, mein Herzschlag immer schneller.
»Ein neuer Tag«, seufzte Seraphin irgendwann.
Ich schluckte nur. Mein Gehirn war leer, die Achterbahnen stillgelegt, mein Hals zugeschnürt.
»Und?« Seraphin lächelte verhalten.
»Du musst das nicht tun«, murmelte ich. Sah ihn nicht an. Starrte nach unten auf die geteerte Dachpappe.
Seraphin lachte traurig. »Was weiÃt du schon?«
Ich wagte einen Blick nach oben. In seine Augen. Nebelgrau. Seraphin bemerkte meinen Blick und wich ihm aus.
»Deine Augen!«, japste ich ungläubig.
»Was ist, gefallen sie dir nicht?« Déjà -vu.
»Verdammt, was ist mit dir los?« Meine Stimme klang irgendwie wütend. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte, war verwirrt, ungläubig, erschrocken.
»Was gehtâs dich an?«, schrie Seraphin. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Vor Ãberraschung blieb mir der Mund offen stehen. »Du hast keine Ahnung!«
»Dann erzählâs mir!«
Seraphin blickte zur Seite, ich konnte ihn schluchzen hören. Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Auf der einen Seite der toughe, sarkastische Typ in der Schule, auf der anderen der schreckliche, schwarze Todesengel, und jetzt das? Ein weinender, verzweifelter Junge?
»Ich gehâ jetzt in die Schule! Wird Zeit!«
Verwirrt blickte ich Seraphin an. Er grinste schief. Hatte sich wieder vollkommen unter Kontrolle.
»Ãh, was?« Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Alles drehte sich.
Seraphin lachte spöttisch. »Es ist Montag, was wolltest du heute machen?« Und er schwang sich elegant vom Dach.
28. Mai 2012, 07:33 Uhr
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Deutsch. Ich saà tatsächlich im Deutschunterricht. Während drauÃen Seraphin mit seinen Gefühlsschwankungen kämpfte und jederzeit einen neuen Mord begehen konnte.
Na ja, das war nicht ganz richtig. Zurzeit saà er nämlich höchstwahrscheinlich in seinem eigenen Deutschunterricht. Während ich mich mal auf den meinigen konzentrieren sollte.
»Tja, wir haben unsere letzte Arbeit ja schon vor drei Wochen geschrieben und deshalb ⦠fangen wir heute endlich ein neues Thema an.« Frau Sommer, meine Deutschlehrerin. Das genaue Gegenteil zu Udoriwitsch. Relativ jung, kurze, schwarze Haare und immer ein Lächeln auf dem Gesicht. Ich mochte sie, mochte ihr Fach und ihren Unterricht.
Gerade stand sie mit dem Rücken zur Klasse und schrieb in groÃen Buchstaben Romantik an die Tafel. »Eigentlich«, begann sie und klopfte sich die mit Kreidestaub bedeckten Hände an ihrer dunkelroten Hose ab. »Eigentlich ist diese Epoche erst nächstes Jahr Thema. Aber na ja, da ihr in der Elften seid und nächstes Jahr andere Lehrer bekommt, dachte ich mir, wir könnten jetzt schon mal einen kleinen Blick darauf werfen. Sozusagen als âTrailerâ für die Deutschstunden nächstes Jahr.« Sie lächelte. »Ich denke, einigen von euch wird das Thema sehr zusagen.«
Unter anderen Umständen hätte ich mich riesig gefreut. Romantik, das war mein absolutes Lieblingsthema. Ich kannte mich schon ein bisschen damit aus, hatte einige romantische Gedichte gelesen und konnte das Thema gar nicht erwarten. Wie oft schon hatte ich selbst nach der blauen Blume gesucht, hatte Novalisâ sprechende Büsche belauscht oder mit Eichendorff laue Mondnächte genossen.
Wie gesagt, unter anderen Umständen wäre das hier mein persönlicher Himmel auf Erden gewesen. Aber die Realität versagte mir die Flucht in die Traumwelt und so war ich in Gedanken bei Seraphin. Dachte an den Nachmittag. Würde es tatsächlich einen weiteren Mord geben? Heute Morgen sah er nicht so aus, als wäre er dazu fähig. Aber wenn er es doch war; wie konnte ich ihn aufhalten?
»Gabriel, was verbindest du mit Romantik?«
»Ãh, was?« Verhaltenes Lachen in der Klasse. Sonja stupste mich an. Sie saà in Deutsch direkt neben mir. Ich hatte sie ganz vergessen. Schämte mich jetzt dafür. Wurde rot. Das Lachen lauter.
»Eine Flucht ins Reich der Fantasie ist tatsächlich ein zentrales Thema.« Frau Sommer lächelte und schrieb Weltflucht an die Tafel. Es wurde wieder ruhiger.
»Was ist denn heute los mit dir?«, flüsterte Sonja neben mir. »Normalerweise bist du in Deutsch doch gar nicht mehr
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