Gabriel - Duell der Engel
zu bremsen. Und jetzt Romantik, eigentlich müsstest du doch auf Wolke sieben schweben.«
Ich lächelte sie an. Schon wieder ein Beweis dafür, wie gut sie mich kannte. »War in Gedanken woanders.«
»Sag bloÃ!«, sie grinste. »Darf ich auch fragen, wo?«
Ich zögerte. Beschloss, es ihr zu sagen. Musste aber vorsichtig sein. »Seraphin â¦Â«, begann ich. Sonja verdrehte die Augen, sagte aber nichts. »Ich hab ihn heute Morgen vor der Schule getroffen. Er war so ⦠anders. Verzweifelt. Hat geweint.«
Jetzt wurde Sonja doch aufmerksam. »Echt?« An ihrem Blick sah ich, wie sie versuchte, sich einen weinenden Seraphin vorzustellen. Und scheiterte. »Na ja, das ist doch eigentlich ganz normal«, sagte sie schlieÃlich. »Jeder hat mal einen schlechten Tag. Vielleicht ist auch etwas Schlimmes passiert. Vielleicht ist seine Oma gestorben. Vielleicht trennen sich seine Eltern. Keine Ahnung, frag ihn doch einfach mal.«
»Und wenn er nicht darüber reden will?«
»Na ja, ich denke, dann solltest du ihn wohl besser in Ruhe lassen. Damit er alleine damit klarkommen kann.«
Ich sah in Sonjas tiefe, eisblaue Augen und nickte Verständnis heuchelnd. Wenn es doch nur so einfach wäre.
28. Mai 2012, 11:15 Uhr
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Endlich Mathe! Oh Gott, wie weit war es mit mir gekommen, dass ich schon so etwas dachte? Die ganzen letzten vier Schulstunden hatte ich auf diesen Moment gewartet. Die Zeit hatte sich gezogen wie Kaugummi, zäh und klebrig war sie gewesen. Aber nun war es so weit. Ich saà nervös kippelnd auf meinem Platz. Doch der Stuhl neben mir blieb leer. ScheiÃe, schon Viertel nach. Die Tür ging auf. Mein Herz setzte aus. Endlich! Doch es war nur Udoriwitsch. Nur. Verdammt, wo blieb Seraphin?
»Wie ihr wisst«, begann Udoriwitsch und lieà seine schwarze Aktentasche so laut auf den Tisch knallen, dass ich zusammenzuckte, »schreiben wir heute in einer Woche unsere letzte Klassenarbeit für dieses Schuljahr.« Ups. Nein, das wusste ich nicht. Nicht mehr. Hatte auch wirklich andere Sorgen gehabt. Hatte sie immer noch.
»Gabriel!«, Udoriwitsch lächelte süffisant. »Deine Reaktion zeigt mir, dass du es anscheinend schon vergessen hattest.« ScheiÃe, wieso kannte inzwischen selbst mein verhasster Mathelehrer meine Gedanken? War ich denn für wirklich alle auf diesem Planeten ein offenes Buch?
»Dafür kannst du uns jetzt dein neu erworbenes Können präsentieren. Komm mal an die Tafel!« Hilfe! Ich betete um ein Wunder. Die Tür ging auf, dahinter stand Seraphin. Déjà -vu. Häuften sich irgendwie in letzter Zeit.
Udoriwitsch drehte sich genervt um, erblickte Seraphin und sein Gesicht nahm schlagartig eine merkwürdige, dunkelrot-violette Farbe an. »Du gehst jetzt noch einmal raus und klopfst, bevor du reinkommst!«, zischte er wütend. »Haben wir uns verstanden?«
Seraphins Grinsen konnte nicht über sein schlimmes Aussehen hinwegtäuschen. Rotgeränderte Augen mit besonders dunklen Ringen darunter, die Haut noch blasser als sonst. Seine schwarzen Haare klebten platt am Kopf, auf seiner Stirn stand SchweiÃ. In der Klasse hatte Gemurmel eingesetzt.
»Ob wir uns verstanden haben?!«, brüllte Udoriwitsch ihn an. Bildete ich es mir nur ein, oder war gerade wirklich ein Tropfen Spucke auf Seraphin geflogen? Der wischte sich tatsächlich mit seinem langen, schwarzen Ãrmel das Gesicht ab und schloss wortlos wieder die Tür.
Stille. Warten. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster links neben Udoriwitsch und lieà sein graues Haar glänzen. Sah scheiÃe aus.
Als nach fünf Minuten (oder Sekunden?) noch immer kein Klopfen ertönt war, ging Udoriwitsch zur Tür und riss sie selbst auf. Der Gang dahinter war leer. Von Seraphin fehlte jede Spur.
28. Mai, 11:19 Uhr
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»Mir ist schlecht!« Ich hielt die Hand vor den Mund und stürzte aus der Klasse. Lieà mein Zeug einfach liegen. Rannte durch die Gänge. Die Treppe hinunter. Auf den Schulhof. Sprang in die Luft, spreizte die Flügel und hob ab.
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Diesmal dauerte meine Suche etwas länger. SchlieÃlich fand ich Seraphin über einem Supermarkt kreisend. Mit dem Rücken zu mir. »Wir müssen reden!«, schrie ich. Meine Stimme klang schwach und dünn, wie Septembernebel. ScheiÃe. Seraphin drehte sich dennoch zu mir um. Ein kalter Schauer jagte durch meinen Körper und
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