Gabriel oder das Versprechen
Carlos
Nase herum. »Erkennst du sie wieder?«
»Ja, sie hat irgendwann im Frühjahr
an einer unserer Partys teilgenommen.«
»Warum haben Sie ihr Bild nicht
veröffentlicht? Dann hätten Sie doch sicherlich schon früher
erfahren, dass sie eine meiner Teilnehmerinnen war?« fuhr Vera nach
kurzem Schweigen fort.
»Das haben wir ganz bewusst nicht
getan. Unsere Erfahrung sagt uns, dass durch die Hinweise der
Öffentlichkeit zur Person des Opfers zu viele unserer Ermittler
gerade in der Anfangsphase gebunden werden und dann meist mit
überflüssigen Nachforschungen beschäftigt sind. Zu einem späteren
Zeitpunkt hätten wir das nachgeholt, aber nicht in so frühem
Stadium der Ermittlungen. Verstehen Sie?«
»Ehrlich gesagt, nein. Und außerdem
haben Sie doch meine Datei… Haben Sie die Namen nicht mit denen der
Toten abgeglichen?«
Jetzt geriet Fassbinder sichtlich
ins Grübeln. Das war in der Tat nicht geschehen. Bei ihrer
operativen Fallanalyse hatten sie sich offensichtlich zu sehr mit
der vermeintlichen Verbindung zwischen dem Gerresheim-Mord und mit
dem ersten Mord in Wuppertal beschäftigt und dabei naheliegende
Aspekte außer Acht gelassen. »Sie haben Recht, Frau Corts, das
haben wir versäumt. Ein mehr als bedauerlicher Fehler. Aber auch
bei früherer Kenntnis dieses Umstands hätten wir den zweiten Mord
kaum vermeiden können«, antwortete Fassbinder frustriert und es war
ihm anzumerken, wie unwohl er sich augenblicklich in seiner Haut
fühlte. »Jetzt wage ich kaum zu fragen, ob Sie auch Frau
Karen Friedrichs gekannt haben?« meinte
Fassbinder und kramte das zweite Bild hervor, das halb unter der
Akte hervorlugte.
»Oh, mein Gott«, seufzte Vera beim
Anblick des Fotos und hielt es Carlo hin, der nur stumm nickte.
»Heißt das ja?« fragte Fassbinder völlig
überflüssigerweise.
»Das ist ja furchtbar. Mein Bistro
als Tummelplatz für einen Psychopathen … Ich kann's nicht fassen!«
Eine Träne kullerte Vera über ihr Gesicht und dann fing sie, die
sich sonst immer so gut im Griff zu haben glaubte, zu weinen
an.
Hilflos stand der Kommissar daneben.
Er war der Situation nicht gewachsen. Carlo war der Erste, der sich
aus der Starrheit löste und Vera in den Arm nahm. Willenlos ließ
sie, die sonst immer so unnahbar war, es mit sich
geschehen.
Gemeinsam traten sie schließlich
hinaus auf den kahlen langen Flur des Polizeipräsidiums. Fassbinder
begleitete Vera und Carlo hinunter. Vor dem Gebäude verabschiedete
er sich, dankte ihnen und versprach, alles daran zu setzen, den
Mörder so schnell wie möglich zu fassen.
27
Polizeipräsidium Wuppertal,
Donnerstag, 21. Mai, 18.15 Uhr
Fassbinder wusste, dass seine
Mitarbeiter moserten, wenn er die Besprechungen auf einen so späten
Termin setzte. Der Vorteil aber lag darin, dass dann alle ihr
Tagesgeschäft - in solchen Fällen oft das ungeliebte
›Klinken-Putzen‹ - hinter sich hatten und so vollständig anwesend
waren. So ließen sich Informationsverluste vermeiden. Wäre der
Termin nicht ohnehin schon fest vereinbart gewesen, hätten die
neuesten Erkenntnisse ihn erforderlich gemacht. Mit gehöriger Wut
im Bauch, die sich nicht nur gegen sein Team, sondern auch gegen
sich selbst richtete, erwartete er schon etliche Minuten vor dem
Termin seine Mitarbeiter im Besprechungsraum.
Auf mehreren nebeneinander
postierten Flipcharts hatte Fassbinder am Nachmittag die Daten und
Fakten notieren lassen. Oft wurde der Bezug der Fakten zueinander
auf diese Weise deutlich, und es ergaben sich neue Aspekte. Auf dem
linken Blatt waren die Daten und Namen der Speed-Date-Besucher aus
der Foto-Mappe aufgelistet, ganz oben ›B. Lagier‹ und ›M. Zeitz‹,
darunter die übrigen Teilnehmer.
Auf dem Blatt direkt daneben prangte
in großen Lettern der Name GABRIEL. Alle Gesichtspunkte waren hier
notiert, die zu diesem Thema gesammelt worden waren. Auf dem Blatt
des dritten Flipcharts befanden sich alle mit den Taten im
Zusammenhang stehenden Daten, auf dem nächsten die Namen und die
Funktionen sämtlicher Personen im Umfeld der Opfer.
Das fünfte Blatt schließlich gab
Aufschluss über die Vorgehensweise des Täters, seine dabei
benutzten Mittel und Gegenstände sowie die
zusätzlich mitgebrachten Utensilien wie Spielkarte und
Blumen.
Fassbinder eröffnete die Sitzung und
seiner Stimme war sofort anzumerken, dass seine Laune im Keller
war. »Nehmt euch bitte ein paar Minuten Zeit und lasst alle Daten
und Fakten auf euch wirken. Achtet auf Zusammenhänge, die
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