Gabriel
Gabriel führte sie in den Speiseraum, wo sie keinen einzigen Gast antrafen.
Erstaunt sah sie sich um. Wo sind sie denn alle?
Auf den Tischen standen Kerzen, brannten aber nur auf einem an dem Fenster, durch das man die beste Aussicht genoss. Sets lagen auf der Tischplatte. In der Mitte dampfte eine Teekanne.
Diesen Tisch steuerte Gabriel mit Juliette an. Sie schaute durch das Fenster auf den Nebel, ohne den die Abenddämmerung das Meer und die Küste in romantisches Licht getaucht hätte. Nicht, dass der Nebel sie störte. Schon immer hatte sie neblige Tage gemocht, die den Eindruck erweckten, man würde ins Land der Träume befördert und sich, wenn die grauen Schwaden verschwanden, in einem Süßwarengeschäft oder einem ähnlichen Paradies befinden.
Aber wie viel schöner noch wäre jetzt ein Meer ohne Nebel?
»Niemand wird es merken, Liebes.«
Sie wandte sich zu Gabriel, der sie beobachtete, einen bedeutsamen Glanz in den Augen. Dann zeigte er zum Fenster. »Nur zu.«
Noch eine Ermutigung brauchte sie nicht. Natürlich wusste er Bescheid über ihre Talente, das war kein Thema mehr. Und hier waren sie allein.
Okay. Auf den dicken Nebel konzentriert, malte sie sich aus, er würde zurückweichen wie das Meer bei Ebbe. In ihrem Innern spürte sie das Anschwellen der bereits vertrauten Magie, die in einem Schwung nach außen drang. Die Kerzen flackerten.
Vor den Fenstern des Restaurants begann der Nebel zu wirbeln, dann wich er von der Küste zurück und ballte sich zu Wolken zusammen, die schließlich eine gute Meile weit draußen über dem Meer schwebten.
»Gut gemacht«, meinte Gabriel lächelnd. Voller Stolz betrachtete er die klaren Wellen.
»Wunderbar, diese Aussicht, nicht wahr?«, erklang hinter Juliette eine heisere Stimme, und Juliette drehte sich zu einem weißhaarigen Mann um. Trotz seines Alters stand er hoch aufgerichtet da. Obwohl er grinste, wirkte seine Miene geheimnisvoll. In seinen blauen Augen erkannte sie eine wache Intelligenz.
Gabriel lachte. »Stuart, ciamar a tha thu?« Er ging zu ihm, begrüßte ihn, und die beiden Männer klopften einander auf die Schultern.
Mit leichtem Unbehagen beobachtete Juliette die Szene. Hatte der Mann gesehen, wie sie den Nebel mittels ihrer Gedanken vertrieben hatte?
»Ah, Juliette!« Gabriel zwinkerte ihr zu. »Nur keine Angst, Burns ist der einzige Mensch auf der Welt, der unser Geheimnis kennt. Und er würde mit aller Macht kämpfen, um es zu schützen.«
Immer noch verstört, blinzelte sie, und der weißhaarige Mann nickte. »Das stimmt. Allerdings hat Gabriel mir verschwiegen, dass Sie sogar unseren schottischen Nebel auflösen können. An manchen Tagen, wenn ich fischen will, würde mir das wirklich nützen.« Sein Gelächter klang wie das Rascheln alten Pergaments. »Und jetzt genießt euer Dinner«, schlug er vor und verschwand hinter der Theke durch eine Schwingtür, die vermutlich in die Küche führte.
»Dieses Restaurant gehört ihm«, erklärte Gabriel und half ihr aus der Fliegerjacke, während sie in ihrer Verwirrung noch immer nichts zu sagen wusste. Nachdem er die Jacke über eine Stuhllehne gehängt hatte, fügte er hinzu: »Fast jeden Morgen fährt er mit seinem Fischerboot hinaus. Dieses Haus hat ihm sein Vater vererbt. Er wohnt mit seiner Frau in den hinteren Räumen.«
»Ist er dein Freund?«
»Ja, ein alter Freund.« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und wartete geduldig. »Als junger Bursche fiel er von einem Trawler ins Meer. Fast wäre er ertrunken. Aber ich habe ihn gerettet. Auf die Weise hat er von meinem Geheimnis erfahren, das er keiner Menschenseele je verraten hat. Seither sind wir eng befreundet.«
Juliette bezwang ihre Verblüffung, setzte sich, und er nahm ihr gegenüber Platz.
»Hat dir die Fahrt gefallen, Babe?« Er schenkte ihr eine Tasse Tee ein, und sie starrte seine starken Hände an, die breiten Schultern. Das verblassende Tageslicht, das durch die hohen Fenster hereindrang, verlieh seinem schwarzen Haar einen bläulichen Schimmer.
Sie schluckte und nickte.
»Bist du hungrig?«, fragte er.
Wieder nickte sie. Auf dem Motorrad hatte ihr der kalte Wind ins Gesicht geweht, der Sieg über den Nebel hatte an ihren Kräften gezehrt, und jetzt verspürte sie tatsächlich einen wachsenden Appetit.
»Gut.« Er schaute zur Schwingtür. Im selben Moment öffnete sie sich. Einige Kellner eilten aus der Küche, alle im schwarzen Frack und mit weißen Handschuhen.
Geschickt trugen sie dampfende Schüsseln,
Weitere Kostenlose Bücher