Gabriel
hungrig.
Einige Tage lang hatte er Zeit gehabt, sich an die neuen Bedürfnisse seines Körpers zu gewöhnen. Doch sie überraschten ihn immer noch. Mit verschiedenen Mahlzeiten hatte er seinen Hunger zu stillen versucht, ohne sie aber verdauen zu können, und ihm war jedes Mal speiübel geworden. Schließlich hatte er einfach nachgegeben und sich dem Diktat seines Körpers gefügt.
Er war auf die Jagd gegangen. Früher hatte er es stets überflüssig und ein bisschen bedrückend gefunden, Menschen zu töten. So hilflos waren sie, nicht imstande, sich zu verteidigen. Nicht einmal gegeneinander. Für Adarianer stellten sie eine erbärmliche Beute dar, armselig wie Schafe. Meist hielten sich Adarianer von den Menschen fern. Aber für einen adarianischen Vampir bedeuteten sie eine Mahlzeit. Sie zu töten war absolut notwendig. Jede Nacht musste Kevin ihr Blut trinken. Dazu zwang ihn sein Hunger.
Kevin überragte die meisten seiner Soldaten. Nur Ely konnte ihm auf Augenhöhe begegnen. Nun wandte er sich zu seinem Vize und fixierte ihn mit einem so stechenden Blick wie nie zuvor. Tapfer, wie er war, bemühte sich der Schwarze, nicht zusammenzuzucken.
»Heute Nacht gehen wir aus, Ely«, kündigte Kevin lächelnd an. »Ich bin hungrig. Und ich möchte euch allen zeigen, worauf ihr euch freuen dürft.«
19
Bereitwillig stand Juliette auf und folgte Gabriel zur Rückseite des Restaurants. »Pass auf«, mahnte er. Während sie um das Holzhaus herum zur Hintertür gingen, half er ihr über ein paar kleine Felsbrocken hinweg.
Das Dinner war erstaunlich gewesen. Diskret hatten die Kellner den einstigen Himmelsboten mit seinem Sternenengel allein gelassen. Seit zweitausend Jahren ein versierter Geschichtenerzähler, hatte Gabriel seine Tischgefährtin mit schottischen Legenden unterhalten. Fasziniert hatte sie an seinen Lippen gehangen, als wären seine Worte ebenso lebensspendend wie die köstliche Mahlzeit. Seine tiefe Stimme und der ausgeprägte schottische Akzent hatten sie in eine ferne Vergangenheit entführt, und jeder Bissen, den sie zu sich nahm, jeder Schluck Tee schien nach jenen alten Zeiten zu schmecken.
Nie zuvor hatte sie sich so wohl gefühlt. Nach dem Dinner hatte sie beinahe geglaubt, sie wäre im Himmel gelandet. Dieser Zustand hielt auch jetzt noch an, da sie mit Gabriel vor der verschlossenen Hintertür des Holzhauses stand. Langsam hob er einen Arm. Sie trat hinter ihn und sah die Tür schwinden, verdrängt von einem Portal, das sie wiedererkannte, denn sie hatte ein solches schon einmal durchquert.
Jenseits des flimmernden Portals wehte der Nachtwind über ein nebelverhangenes Feld. Dahinter ragte die Ruine eines mächtigen Schlosses über dem Meer empor.
»Slains Castle!«, rief Juliette aufgeregt. »Und das ist die Cruden Bay!« Diese Ruine hatte sie besuchen wollen. Aber seit ihrer Ankunft in Schottland war zu viel geschehen und hatte sie daran gehindert. Angeblich hatte das Schloss Bram Stoker zu seinem berühmten Roman Dracula inspiriert. Im Lauf ihrer Studien hatte sie das Buch mehrmals gelesen und beschlossen, Slains zu besichtigen.
Und da erhob es sich, ein grandioser steinerner Gigant im Nebel an der Küste bei Vollmond. »Das kann nicht wirklich sein«, wisperte sie.
Gabriels Lippen berührten ihr Ohr, und sie erschauerte. Von der Ruine völlig hingerissen, hatte sie nicht bemerkt, dass er hinter ihr stand. »Genau das dachte ich, als ich dich zum ersten Mal sah, Babe«, flüsterte er. »Aber du fühlst dich sehr real an.« Seine Hände umschlossen ihre Arme. »Und dieses Schloss wartet seit Jahrhunderten auf dich.«
Behutsam schob er sie auf das Portal zu, vor dem sie sich nicht mehr fürchtete. Gabriels sanfte Stimme, die zärtliche Berührung und ein geheimnisvolles Versprechen zerstreuten alle Zweifel.
Und so überquerte sie mutig die Schwelle. Alles drehte sich ihr vor Augen, und Juliette schloss die Lider, weil ihr plötzlich schwindelte. Aber Gabriels starke Brust an ihrem Rücken gab ihr Halt, und er schob sie vor sich her, bis sie unter ihren Stiefeln Erdreich und Gras spürte. Sie hörte Möwen kreischen, kühler Nebel küsste ihre Wangen. Offenbar war sie unbeschadet auf die andere Seite des Portals gelangt.
Sie blinzelte und entdeckte hinter sich ein kleines rotes Auto am Rand einer Straße. In der Nähe verkündete ein Schild: »Ausweichstelle.«
Verblüfft musterte Juliette den Wagen. Wie ihr der Hüter namens Max am Morgen erklärt hatte, konnten die Erzengel mittels
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