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Gabun - Roman

Gabun - Roman

Titel: Gabun - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meinrad Braun
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noch heute. Wie Konfuzius. Der komme auch aus Nanjing, wahrscheinlich jedenfalls, so genau wisse man das nicht mehr.
    Das Essen in Nanjing, führte Ah Soo weiter aus, während er sein rechtes Stäbchen kritisch betrachtete, habe Stil. Es gehöre zum besten in ganz China. Ah Soo bekräftigte dieses Urteil, indem er mit dem Stäbchen zweimal gegen seine Reisschüssel klopfte. Hundenacken zum Beispiel. Man esse nirgends so köstlich gebratenen Hundenacken wie in Nanjing. Er hob die Brauen und schüttelte den Kopf. Aber das könne ich als Europäer wohl nicht richtig einschätzen. In der Altstadt, erzählte er weiter, fahre man im Boot abends unter roten Laternen auf den Kanälen und sehe sich die Häuser berühmter Dichter an, die dort gelebt hatten, und die Paläste, in denen die Lieblingskonkubinen der höheren Beamten gewohnt hatten. Den wichtigsten von ihnen habe man später Denkmäler errichtet, die seien heute noch am Ufer zu sehen. Alles werde zudem seit einigen Jahren bunt beleuchtet, und jeden Abend würde Feuerwerk abgebrannt. Die Menschen in Nanjing seien fröhlich und lebensbejahend. Auch Mao Zedong, meinte Ah Soo, habe Nanjing besonders ins Herz geschlossen gehabt. Deshalb habe er dort eine Brücke über den Yang Tse bauen lassen, die sechs Kilometer lang sei. Damals sei das die längste Brücke der Welt gewesen.
    Ah Soo schob seine leeren Schälchen zusammen und legte die beiden Stäbchen darüber, sie bildeten dadurch eine kleine Brücke. Leider, fügte er an, brächten sich heutzutage viele Leute um, indem sie vom Geländer der Brücke in den Fluss hinuntersprängen. Weil die Brücke so lang sei, könne man das schlecht verhindern. Aber die Polizei fahre regelmäßig mit Motorrädern auf der Brücke hin und her, um die Selbstmörder aufzuspüren und zu verwarnen. Sich das Leben zu nehmen, schloss Ah Soo, sei ausgesprochen unordentlich.
    Wir aßen schweigend und kommentierten diese Einschätzung Ah Soos nicht weiter. Lin Tau, weil er kein Englisch verstand und ohnehin nie etwas kommentierte, und ich, weil mir die Sache mit der Brücke und den Selbstmördern wie eine Metapher für die chinesische Diktatur vorkommen wollte und ich darüber nachdachte, ob sich in Ah Soo nicht vielleicht ein besonders gewitzter Satiriker verbarg.
    »Keine Zeit«, unterbrach er schließlich meine Überlegungen und scheuchte uns wieder an die Töpfe.
    Der zweite Tag brachte mich aufs Neue an den Rand der Erschöpfung. Bereits nach dem Mittagessen musste ich mit einer Extraportion Tee und einer Suppe, in der geriebener Ingwer, Seetangfäden und feine Streifen aus gedünstetem Fisch schwammen, wieder auf die Beine gebracht werden. Ich erledigte alle Hilfsarbeiten, die in der Küche anfielen, wusch Geschirr mit François, putzte Gemüse mit Lin Tau und ging Ah Soo zur Hand, wenn er Assistenz brauchte. Küchenhelfer im »Yang Tse« zu sein hatte sich zur anstrengendsten Arbeit entwickelt, die ich in meinem Leben je gemacht hatte. Und Ah Soo und Lin Tau waren die schnellsten Köche, denen ich jemals zur Hand gegangen war.
    Gerade stand Ah Soo neben mir und lehrte mich das Herstellen von Fleisch- und Fischbällchen, eine der Grundtechniken in der chinesischen Küche. Man müsse, meinte er, und dabei bewegten sich seine Finger am Rande der mit bloßem Auge noch wahrnehmbaren Geschwindigkeit, man müsse die Fleischbällchen und die Fischbällchen in einer bestimmten Richtung drehen, und zwar so-und-so-oft und nicht ein einziges Mal mehr. Die Fischbällchen rotierten in seinen Händen nach rechts und anschließend nach links.
    »Harmonie«, sagte ich.
    »Genau«, bestätigte Ah Soo zufrieden.
    In einer Ecke der Küche hielt sich Ah Soo so etwas wie einen kleinen Hausaltar. Ein brennendes Teelicht stand vor einer Postkarte und einer kleinen Statue, die ein merkwürdiges Fabelwesen darstellte. Auf der Postkarte sah man die schon erwähnte Yang-Tse-Brücke. Bunt bewimpelt, in dem vom Fotografen gewählten Bildausschnitt stürmten ein riesiger Soldat und ein gleich großer Bauer aus Sandstein – sie waren schätzungsweise zwanzig Meter hoch – die Rampe hinauf, um symbolisch zusammen den Yang Tse zu überqueren.
    »Was ist das für ein Tier?«, fragte ich und deutete auf die Statue.
    Das Wesen besaß klauenbesetzte Pranken und einen bemähnten Kopf. Eine Kreatur, die zwischen Schwein und Löwe stand, hätte ich gesagt. Das Tier starrte mit einem merkwürdigen Ausdruck vor sich hin auf den Boden; es wirkte, als fühle es sich nicht

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