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Gabun - Roman

Gabun - Roman

Titel: Gabun - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meinrad Braun
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und im Übrigen eben moralisch. Bei koloniebildenden Arten kommen nämlich enorm viele Ameisen um. Von den neu gegründeten Kolonien überleben höchstens fünf Prozent, die anderen gehen alle zugrunde. Nur junge Ameisen dürfen im Nest arbeiten, sie sind Ammen für die Larven, füttern die Königin, unter anderem mit ihren eigenen, unbefruchteten Eiern. Ausschließlich die Eier der Königin dürfen versorgt werden, alle anderen werden gefressen. Wenn die Arbeiterinnen älter werden, müssen sie rausgehen, dort sterben die meisten von ihnen.«
    »Du meinst, sie opfern sich?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wenn du moralisch denkst, ja. Damit die Gene der Kolonie überleben. Das ist die vernünftige Sicht, die darwinistische. Es gibt aber zum Beispiel primitive Ameisenarten, die gar keine Staaten bilden, bloß kleine Trupps. Die kommen seit hundert Millionen Jahren auch so zurecht. In den großen Staaten, in denen, die man für am weitesten entwickelt hält, werden die meisten Ameisen verschlissen. Das ist wie der Unterschied zwischen einer Spekulationsblase und einem Handwerksbetrieb. Wenn man Gewinn machen will, funktioniert beides, nur das Risiko steigt.«
    Ich warf Farouk einen Blick zu. Seine schwarze Haut. Porig, mit feuchtem Glanz. Eine von oben beleuchtete Bronzestatue in einem Muscleshirt. Die Weinflasche ruhte auf seinem rechten Knie. Ich griff danach.
    »Noch was Interessantes«, sagte ich. »Die Männchen sind haploid. Sie haben nur den halben Chromosomensatz. Die Königin legt bei Bedarf ohne Weiteres Zutun ein paar hundert haploide Eier, daraus werden Männchen. Die Männchen schwärmen aus und befruchten junge Königinnen. Sonst haben sie keine Aufgabe.«
    »Muss ein schönes Leben sein.«
    »Wie man’s nimmt. Ich sagte doch vorhin: Verschwendung. Die Männchen werden anschließend getötet. Das Umbringen von Artgenossen gehört bei den Insektenkolonien ohnehin zu den üblichen Problemlösungen, wie bei den Menschen ja auch, wenn man es realistisch sieht. Sobald die menschlichen Kulturen sich höher entwickelt haben, hat der Überhang an jungen Männern ständig gestört, der musste irgendwie abgebaut werden. Durch Krieg, beim Pyramidenbau, zum Rudern von Galeeren, mit solchen Lösungen. Oder heutzutage mit unbezahlten Praktikumsstellen. Um zu den Ameisen zurückzukommen, sie sind mit dem Töten von Artgenossen nicht zurückhaltend, das ist ihr wichtigstes Regulativ. Das andere ist Sex. Sie sind total restriktiv mit Sex. Nur die Königin hat Sex, sie arbeitet nicht. Alle anderen müssen arbeiten und haben keinen Sex. Übrigens haben sie auch eine Bestattungspraxis. Artgenossen tragen sie auf Friedhöfe, damit die Kolonie nicht krank wird. Infizierte Ameisen gehen selbstständig raus, um zu sterben.«
    »Nobel«, kommentierte Farouk.
    »Immer bei den Ameisen. Ihre Errungenschaften haben die vernünftigen Forscher sehr beeindruckt. Leider haben sie nichts weniger als einen freien Willen, aber das ist bei uns Menschen ja auch fraglich, wie die Neurowissenschaftler herausgefunden haben. Die Ameisen funktionieren vor allem so gut, weil sie sich mit Freiheit erst gar nicht befassen. Sie sind normiert und berechenbar, sie sind sozusagen ständig online, sie bleiben auf Sendung. So gesehen sind sie die perfekten Untertanen. Jede Ameise kann nur ein paar Handlungen ausführen, die werden dann wieder ein paarmal mit verschiedenen Kontexten verknüpft, und schon funktioniert alles wunderbar. So ein System verkraftet eine Menge Stress, seit zig Millionen Jahren.«
    »Und du glaubst nicht, dass wir leben, um unsere Gene weiterzugeben, Bernd?« Farouk grinste bronzen aus dem Halbdunkel herüber.
    »Ich glaube, dass lebende Systeme sich nicht zum Höheren entwickeln, das ist ein Mythos. Das Leben klettert keine Leiter hinauf. Es breitet sich aus, wie eine Infektion, wie ein fraktales Ornament. Was lebt, hat seine Blütezeit, um Sex zu treiben, die Nachkommen zu versorgen, dann möchte es sterben. Jede Zelle hat Todesgene. In unserem Innern wissen wir, dass der Tod unsere Bestimmung ist, nicht irgendeine Fitness. Kultur und Moral sind beständige Versuche, das Wissen um den Tod möglichst überzeugend auszutricksen. Bei den Ameisen kann man das deutlich sehen, im Vergleich sozusagen, weil sie einen richtigen Staat bilden, aber sie haben meines Wissens keine Religion, und sie geben auch keine Kredite. Sie arbeiten ja auch nicht, aber nur deshalb, weil sie nicht wissen, dass sie arbeiten. Und sie wirtschaften mit dem Tod.

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