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Gabun - Roman

Gabun - Roman

Titel: Gabun - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meinrad Braun
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kein Zielfernrohr. Wieso nicht?«, brummte er, den Schaft an die Backe gepresst.
    »Das brauchen Sie nicht. Ein Zielfernrohr benötigt zu viel Zeit, man muss erst hineinsehen. Außerdem würde es Ihnen vielleicht den Schädel spalten, wenn Sie mit solch einem Gewehr schießen.«
    Giuliani setzte das Gewehr so abrupt ab, als wäre es noch geladen.
    »Verdammt, De Vries, ich würde zu gern mal damit schießen.«
    »Fragen Sie Herrn Fox. Er ist der Hausherr hier. Was mich angeht, ich habe nichts dagegen.«
    Ich verabschiedete mich. Ich würde nicht damit schießen, das schwor ich mir. Was voreilig war.
    Nach dem abendlichen Abspülen wollte ich mir noch ein wenig die Beine vertreten. Ich war als Letzter im Küchenschuppen geblieben. Als ich das Licht gelöscht und die Tür verschlossen hatte, suchte ich meinen Spazierweg auf, den ausgetretenen Pfad, der um die Gästepavillons herumführte, den ich ab und zu entlangging.
    Ich trat ins Freie unter die Sterne, die heute ohne störendes Mondlicht besonders verrückt funkelten. Ich glaube, zum ersten Mal habe ich begriffen, was Sterne sind, als ich sie in Afrika sah. In Berlin kann man natürlich auch Sterne sehen, aber man versteht nicht, wieso sie die Menschen in früheren Zeiten so beeindruckt haben. Hier schon. Die Milchstraße war tatsächlich eine, sie erstreckte sich von Horizont zu Horizont. Eine Weile starrte ich in den Nachthimmel hinauf, bis mir der Nacken wehtat, dann machte ich mich auf den Weg. Ein gutes Stück entfernt sah ich die Windlichter der Tafel wie eine verstreute Schar Glühwürmchen glimmen, die warme Luft ließ sie flackern. Lachen und Gesprächsfetzen trieben zu mir herüber. Ich beschleunigte meinen Schritt, um an der dunkelsten Stelle hinter dem Küchenschuppen vorbeizukommen. Dann blieb ich stehen.
    Neben der Wand war etwas.
    Nicht etwas, jemand war da. Ich ahnte eine Gestalt, unbeweglich, aber dennoch sehr anwesend. Der Schreck begann in meinem Bauch und kroch mir in die Glieder hinein. Das Wesen tat einen Schritt in meine Richtung und hob spinnengliedrig den Arm, dabei geriet es aus der Finsternis in den schwachen Widerschein der Windlichter. Ich erkannte den Mumienkopf, die ledrigen Falten, das zahnlose Grinsen.
    »Dede«, sagte der Waldschrat.
    Sein nasenzerfressender Gestank waberte mit Verzögerung hinter ihm her und verdichtete sich nach einer Sekunde zu einer Dunstglocke über uns beiden, als er vor mir stehen geblieben war. Automatisch hörte ich auf zu atmen. Auf der faltigen Brust zwischen Brustwarzen, die abgekauten Bleistiftstummeln glichen, sah ich das scheußliche Ding hängen, das den Pestgeruch aussandte. Die Hand des Waldschrats zupfte an meinem Ärmel, ich zuckte zurück. Er wollte etwas von mir. Ich konnte nicht antworten, ihn etwa fragen, was ich für ihn tun könnte, in keiner Sprache der Erde. Weil ich noch immer die Luft anhielt.
    »De-dede-dedede«, sagte der Alte noch einmal, aber wesentlich lauter und ungeduldiger, und zupfte mich weiter am Ärmel. Ich schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig die Achseln. Dann musste ich einatmen und verlor fast das Bewusstsein von dem Gestank.
    »Deda«, schloss der Alte unwirsch.
    Vielleicht hatte er bemerkt, dass ich ihn nicht verstand. Er zog noch einmal an meinem Ärmel und stieß zwei Finger der anderen Hand gegen seinen Mund, riss ihn weit auf, zeigte mir einen Zahnstummel, der darin glänzte wie ein schlecht eingeschlagener Nagel. Hunger. Der Mann hatte einfach nur Hunger. Ich holte erleichtert Luft und bereute es sofort. Mir wurde übel.
    »Ich hole was zu essen, okay?«, sagte ich.
    »Deda.«
    Sagte mein neuer Gast, damit zufrieden, eine gewisse Wirkung bei mir erzielt zu haben. Ich machte mit offener, nach unten gekehrter Handfläche das international anerkannte Zeichen für »hier warten« und strebte zum Küchenschuppen. Ehe ich hineinging, drehte ich mich um. Der Waldschrat folgte mir auf den Fersen, den Kopf witternd vorgestreckt. Ich machte noch einmal besagtes Zeichen. Der Gestank des Alten hätte möglicherweise das Haltbarkeitsdatum unserer Lebensmittel auf einen Schlag um vier Wochen vordatiert.
    Diesmal wirkte es, die nächtliche Erscheinung verharrte vor dem Eingang. Drinnen angekommen stopfte ich im Licht des geöffneten Kühlschranks hastig kalte Pute, Lammschinken und pochierte Wachteleier, gefüllt mit Anchovis, die Reste der heutigen Vorspeise, in eine Papiertüte – Plastiktüten waren Ze Zé verhasst –, tat ein halbes Brot dazu und zwei Avocados.

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