Gabun - Roman
hörte, wie Olson eine weitere Bierdose aufknackte. Er nahm so wenig Notiz von uns wie ein Langzeitpsychiatriepatient unter Vollmedikation. Ich setzte die Konversation fort.
»Sie waren auf der richtigen Seite, oder?«
»Sie meinen, das wäre ein Tausch«, sagte Frau Dr. Decker. »Man könne das tauschen, Not gegen Heil.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ein Irrtum, Herr Jesper. Man kann da nichts tauschen. Dazu braucht es einen Bezug.« Sie lachte leise. »Gott, zum Beispiel. Aber der ist auch schon tot.«
Dazu wusste ich nichts zu sagen. Ich überlegte, ob ich zuerst das letzte Stück Fisch oder das Gemüse essen sollte, dann entschied ich mich für den Fisch.
Frau Dr. Decker warf mir einen Blick zu. »Die Ameisen und ihre Moral, das haben Sie doch neulich gesagt, oder? Das hat mir ganz gut gefallen. Es ist nämlich das, was ich erlebt habe. Die Moral der Ameisen, mich eingeschlossen.«
»Natürlich haben sie keine Moral«, sagte ich. »Die Ameisenforscher sind beeindruckt davon, dass sie ein intelligentes System zustande bringen, bei dem sie sich sogar selbst opfern. Sie unterstellen den Ameisen eine Art Moral des Überlebens.«
»Zum Überleben braucht es keine Moral«, sagte Frau Dr. Decker. »Zum Sterben auch nicht. Das geht ganz ohne Moral.«
»Wozu braucht man dann eine Moral, Ihrer Meinung nach?«
»Um Macht auszuüben vielleicht, Herr Jesper, für den Rausch, den die Macht verleiht. Um den Tod austeilen zu können. Vielleicht braucht man Moral sogar, um sich selbst zu zerstören.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Erstens, weil ich es oft genug gesehen habe. Ich war eine Statistin, die Verbände gewechselt, betäubt und operiert hat in diesem Theater der Vernichtung, und ich war ein Teil davon. Selbst die Warlords in Darfour haben ihre Moral, wissen Sie. Sie haben geglaubt, dass sie richtig handeln, auf irgendeine verrückte Art richtig. Zweitens, weil ich gerade selbst auf den Tod warte und das überhaupt nicht reizvoll finde. Bei mir findet es am anderen Ende statt, Herr Jesper, am jämmerlichen Ende. Auf mich wartet kein großer Tod, bloß das Ende des Überlebens.«
»Wie ist die Verbindung zur Moral der Ameisen? Das verstehe ich nicht.«
»Die Tiere – wissen Sie das eigentlich? Die Tiere waren einmal heilig. Die Primitiven haben sich vor den Tieren geschämt. Vielleicht haben sie begriffen, was wir vergessen haben. Dass wir Menschen nicht zur Reife gelangen, so wie die Tiere. Unserer Natur nach bleiben wir Säuglinge. Brüllende oder schluchzende Kleinkinder, die gerne Käfer zertreten, wenn man sie das tun lässt. Die Moral, Herr Jesper, ist eine Erfindung der Menschen, die die eitelsten Tiere sind, die es je gab. Sie ist bloß eine Behauptung, sonst nichts.«
Vollmond. Ein roter, sehr großer Mond war am Himmel erschienen. Er hatte über der Lodge gehangen wie ein Zeichen von nahem Unheil. Vielleicht schlief ich deswegen so unruhig. In meinen Träumen war es Winter. Eiskalter Wind trieb den Schnee durch die Straßen eines mir unbekannten Dorfes, das noch dazu aussah wie aus einer anderen Zeit. An verlassenen Hütten klapperten die Fensterläden, vielleicht heulte auch irgendwo ein Wolf, ich konnte es vom Heulen des Windes in meinem Traum nicht unterscheiden. Ich wusste aber, dass ich mich verstecken musste. Jemand war hinter mir her, mein Leben hing davon ab, dass man mich nicht fand. Der Waldschrat war es, er suchte mich. Er war auf der Suche nach Feiglingen, zusammen mit einer Armee aus verwesenden, stinkenden Affen, die mit grinsenden Totenköpfen in der zerlumpten Kleidung der verlorenen napoleonischen Armee dort draußen durch den Schnee ritten, eine höllische Kavallerie, verflucht und untot. Es gab keine Moral, es gab kein Pardon und keine Rettung, es gab nichts mehr.
Ich horchte ängstlich auf Hufgetrappel. In der Kate, in der ich mich befand, war es bitterkalt. Durch das kaputte Fenster schien der Mond herein. Sie würden mich finden, früher oder später. Als es klopfte, lag ich zitternd vor Kälte auf meinem Strohsack und starrte unverwandt auf die Tür. Der Alte hatte mich gefunden, es war aus mit mir.
»Herr Jesper«, rief draußen jemand mit gedämpfter Stimme.
Ich wachte auf. Es klopfte noch immer. Ich öffnete die Augen, von denen ich gedacht hatte, sie wären bereits offen.
»Herr Jesper. Wachen Sie auf!«
Ich erhob mich von meinem Feldbett. Es war nicht kalt, es war heiß. Mein Körper schaltete automatisch von Eiseskälte auf Backofenhitze um, es
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