Gaelen Foley - Amantea - 01
jemand, den Sie lieben, alles wagen?“
Sie betrachtete ihn mit müdem Blick, und ihr Kopf fühlte sich so schwer an, dass sie ihn kaum vom Kissen heben konnte. „Ist das ein gelehrter Diskurs, den Sie mit mir füh- ren wollen? Ich habe vierundzwanzig Stunden lang kein Auge zugetan ...“
„Nein, es ist etwas sehr Dringendes. Signorina Monte- verdi, Lazar ist ein Mann, der auf des Messers Schneide zwischen Gut und Böse balanciert. Sie sind vielleicht die Einzige, die ihn noch retten kann, bevor er für immer verloren ist.“
Der Vikar brauchte einige Momente, um zu erklären, was Lazar vorhatte. Obgleich Allegra ihm nicht ganz glaubte, so klang Lazars Plan doch so beunruhigend, dass sich ihre Erschöpfung in kalte Furcht verwandelte.
Ruhig erklärte ihr der Vikar, dass ihre ganze Familie ster- ben müsste, wenn sie nicht sogleich handelte. Lazar habe vor, alle umzubringen, da er sich auf einem Rachefeldzug gegen ihren Vater befände.
„Was hat mein Vater ihm angetan?“ rief sie und sprang aus der Koje. Da sie den diktatorischen Zug ihres Vater gut kannte, konnte sie sich leicht vorstellen, dass er Lazar eine schreckliche Ungerechtigkeit angetan hatte.
Einen Moment schürzte der Vikar die Lippen, entschloss sich dann aber, sie nicht mehr länger im Unklaren zu las- sen. „Seine Familie wurde ermordet. Ihr Vater ist dafür verantwortlich.“
Allegra erstarrte und blickte ihn aus großen Augen an. Im Bruchteil einer Sekunde stieg der schrecklichste Ge- danke in ihr auf und traf sie mit einer Heftigkeit, dass es ihr übel wurde.
Was war, wenn es sich bei dem Fremden tatsächlich um Lazar di Fiore handelte? Konnten die schlimmsten An- schuldigungen der Rebellen wirklich wahr sein? Hatte ihr Vater König Alphonso verraten?
Sie konnte das einfach nicht glauben. Das durfte nicht sein.
„Wer ist er, Vikar?“ flüsterte sie heiser. „Wer war seine Familie, die mein Vater vernichtet hat?“
„Es ist mir leider nicht möglich, Ihnen das zu sagen, meine Liebe. Lazar wird es Ihnen selbst mitteilen, wenn
die Zeit gekommen ist. Für den Moment befürchte ich, dass Sie Ihre Entscheidung ohne weitere Erklärungen von mir treffen müssen.“
Wie diese Entscheidung ausfallen würde, war klar. „Gehen wir!“
Sie hasteten hinaus. Einen Moment fragte sich Allegra, warum Lazar sie verschont hatte, doch die Antwort war ihr sofort klar. Sie verstand nun, dass es niemals seine Ab- sicht gewesen war, Lösegeld für sie einzufordern. Stattdes- sen hatte er vorgehabt, ihre ganze Familie zu ermorden. Dieser Gedanke ließ sie vor Grauen schaudern.
Ihr neuer Herr ...
„Ich bin von Anfang an gegen diese Vendetta gewesen“, erklärte der Vikar, als sie nach oben eilten und auf das breite Deck der schnittigen Fregatte stiegen. „Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass in einem derartigen Ra- chefeldzug keinerlei Gerechtigkeit liegt. Aber er weigert sich, auf mich zu hören. Vielleicht gelingt es Ihnen. Wenn nicht, wird er sich selbst zerstören.“
Sie wollte schon die Landungsbrücke hinunterlaufen, doch der Vikar fasste sie am Arm. „Warten Sie.“
Sie drehte sich mit wild funkelnden Augen zu ihm um. „Was ist?“
Durchdringend blickte er sie an. „Wenn Sie es nicht schaffen, wird er Sie vielleicht mit den anderen hinrich- ten.“
Ungeduldig winkte sie ab. „Wo sind sie?“
„Im Munitionslager.“
Gleich darauf eilten sie weiter. Der Vikar scheuchte die Piraten von einer Kutsche, die gerade eingetroffen war, und kletterte gemeinsam mit Allegra auf den Kutschbock. Er lenkte das Gefährt mit halsbrecherischer Geschwindig- keit eine gewundene Straße nach Klein-Genua hinauf und durch die Tore, die Lazar die Nacht zuvor geöffnet hatte.
Allegra sprang vom Bock, noch bevor die Kutsche an- hielt. Sie hastete über die Piazza, obwohl jeder Schritt für ihren verletzten Knöchel und ihre wunden Füße noch schmerzhafter wurde. Lazars Piraten beobachteten, wie sie vorübereilte. Doch keiner wagte, sie aufzuhalten, da sie alle davor gewarnt worden waren, die Signorina auch nur zu berühren.
Er war nicht Lazar di Fiore. Das konnte er nicht sein.
Allegra wusste, dass ihr Vater kein guter Mensch war, aber sie war außer Stande zu glauben, dass er etwas so Schreckliches getan hatte. Auch der Fremde war gewiss nicht imstande, etwas derart Verwerfliches wie eine Mas- senhinrichtung durchzuführen. Zwar hatte er Domenico brutal zusammengeschlagen, doch er hatte Allegra so sanft in die Arme genommen und so zärtlich zu
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