Gaelen Foley - Amantea - 01
Bett gebracht.
Als sie am Poseidonbrunnen vorüberkam, blieb sie ei- nen Moment entsetzt stehen, als sie Goliaths Leiche sah, die gerade über die Straße gezogen wurde, um irgendwo verscharrt zu werden. Eine Blutspur blieb zurück, die aus einer Schusswunde am Kopf stammte.
Dann bemerkte sie eine Bewegung auf der östlichen Stadtmauer. Eine Schar von Leuten betrat den hohen, dem Wind ausgesetzten Wehrgang. Sie sah Kinder und Frauen unter ihnen.
„Mein Gott, nein.“ Allegra stöhnte. Ich darf nicht zu spät kommen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie zu dem großen Waffenlager gelangte, doch endlich stieg sie die Steinstu- fen hinauf und eilte durch die offene Tür in den Vorhof. Nur einen Herzschlag lang blieb sie stehen. Noch nie zuvor war sie hier gewesen.
Er war leer. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was aus den Wachsoldaten in ihren blauen Uniformen geworden war. Vor Erschöpfung keuchend, sah sie nach rechts und nach links. Am Ende des Ganges zu ihrer Linken entdeckte sie schließlich eine steinerne Treppe, die sie hinaufrannte.
Auf einer der Stufen glitt sie aus und schlug sich das Schienbein an, doch sie lief weiter und kam schließlich oben zu einer kleinen Tür. Diese öffnete sie und befand sich auf dem östlichen Wehrgang der Mauer. Ungläubig blickte sie auf die Szene, die sich ihr bot.
Ihr Vater war da. Alle ihre Verwandten wurden gegen die Zinnen gedrängt, die zum Kliff wiesen. Ihnen gegenüber stand eine Gruppe bewaffneter Männer, die sich soeben formierte.
Jetzt entdeckte sie auch Lazars große, schlanke Gestalt. Die langen Enden seines Tuchs flatterten in der steifen Brise.
6. KAPITEL
Auf dem östlichen Wehrgang brannte die Sonne heiß he- runter. Sully befahl den Männern, sich zu einem Feuer- kommando aufzustellen, und Lazar ertappte sich dabei, wie er seine Opfer betrachtete.
Verdammt noch mal, du Narr. Schau niemals in die Gesichter.
Kapitän Wolfe hatte ihm das bereits beigebracht, als Lazar kaum sechzehn Jahre alt gewesen war. Mit einem zornigen Laut wandte er sich ab und sah auf das Meer hinaus, doch das Bild einer üppigen Matrone und ihres pausbäckigen kleinen Jungen, der festlich herausgeputzt war, hatte sich ihm eingeprägt. Er wurde auch das Bild des hageren Großvaters Monteverdi nicht los, der einen wei- ßen Bart hatte und zornig auf Italienisch Schimpfworte ausstieß, um seine weinende Verwandtschaft anzuhalten, mit mehr Stolz in den Tod zu gehen.
Lazar atmete einige Male tief durch und griff nach dem Behälter mit Rum in seiner inneren Westentasche, doch die Flasche war nicht da. Ihm fiel ein, dass er den Lederriemen dazu benutzt hatte, Allegra zu fesseln.
Die Monteverdi begannen, mit bebenden Stimmen einen Rosenkranz zu beten. Lazar hörte einen Moment zu. Es war lange her, seit er das letzte Mal ein Gebet vernommen hatte.
Er betrachtete seinen eigenen Schatten, der schwarz auf den Boden fiel. Dann wandte Lazar sich wieder um. Die Monteverdi schienen zum Sterben bereit zu sein, alle hat- ten sich auf die Knie niedergelassen und die Blicke zum Himmel gerichtet. Außer dem Gouverneur, der – wie Lazar annahm – wusste, dass in seinem Fall ein Gebet sinnlos wäre.
Lazar rief den Männern zu, ihre Gewehre anzulegen. Zum wiederholten Mal redete er sich ein, dass er es ertra-
gen konnte. Er hatte bereits Schlimmeres getan. Wenn sie ihn eines Tages dafür hängen würden, könnte er sich stets sagen, dass er sowieso kein Recht hatte zu leben.
Einen Moment versank er in Gedanken und erinnerte sich an die Nacht, in der seine Welt ihr Ende gefunden hatte.
Alle warteten. Jemand schluchzte. Der Wind pfiff La- zar um die Ohren und blies ihm kleine Sandkörner ins Gesicht.
Er musste seine Pflicht erfüllen, obwohl es ihm ganz und gar nicht gefiel. Damals hatte er überlebt, obwohl er mit seiner Familie hätte untergehen sollen. Nur Blut konnte jenes Verbrechen sühnen.
„Fertig“, sagte er hart und finster.
Die Männer legten die Gewehre an die Schultern.
„Gott verfluche dich auf ewig!“ stieß der Gouverneur hervor und erzitterte bei seiner Verwünschung.
Lazar sah ihn gleichmütig an und spürte, wie er den Mund zu einem grausamen Lächeln verzog. Verflucht, dachte er. Wenn du nur wüsstest. Doch etwas hielt ihn da- von ab, den letzten Befehl zu geben. Er war also doch ein Feigling. Sollte er nicht doch den Säugling und die Frau, die ihn trug, verschonen? Erneut wandte er sich dem Meer zu. Er horchte in sich hinein, um die Antwort zu finden. Am
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