Gaelen Foley - Amantea - 02
hatte, füllte Darius seine Feldflaschen für den kommenden Tag am Brunnen. Dann kehrte er in den schmutzigen Gasthof zurück, wo der Wirt ihm Essen brachte.
Danach ging er in seine finstere Kammer, wusch sich die Hände, bespritzte Gesicht und Nacken mit Wasser und kon- trollierte ein weiteres Mal sein Gewehr. Er sah nach, ob das Arsen noch in dem winzigen Umschlag war, den er mitge- nommen hatte, und legte sich dann angezogen auf das Bett, um zu schlafen. Den Dolch verstaute er vorher unter dem Kopfkissen.
Der Schlaf war trügerisch.
Er war früher als sonst zu Bett gegangen und spürte mit jedem Zoll seines Körpers, dass er allein war. Er musste gegen seinen inneren Widerstand ankämpfen und endlich seinen Tod als etwas Unausweichliches annehmen. Sein Plan verlangte einen klaren Kopf, und Hoffnung würde ihn nur ablenken.
Er zwang sich dazu, dieselbe Ausweglosigkeit zu empfin- den, wie er sie auf dem Weg von Russland zurück nach Amantea erlebt hatte. Damals war es einfach gewesen, den Tod anzunehmen, denn er hätte nur das Ende seines Leidens bedeutet. Doch jetzt hatte er eine Seite des Daseins kennen gelernt, für die es sich lohnte, weiterzuleben. Plötzlich zeigte sich sein Überlebenswille mit aller Kraft, und starke Mächte begannen, in ihm zu ringen: Liebe und Hass, Lebenswille und Aufgabe.
Er wollte nicht schlafen, wusste jedoch, dass er am nächs- ten Morgen früh losreiten musste, um am Abend in Pavia einzutreffen.
Darius verschränkte die Arme unter dem Kopf, schlug die Beine übereinander und schloss mit einem leisen Lächeln die Augen. Ich frage mich, was meine Serafina wohl gerade macht.
Serafina stand einen Augenblick wie gelähmt da. Dann schrie sie auf: „Nein!“
Wie eine Wahnsinnige fegte sie alles vom Tisch ihres Vaters und zertrümmerte dabei das Modell des königlichen Flagg- schiffs. Sie warf die zerbrochenen Stücke auf ihren Vater, als er versuchte, sich ihr zu nähern.
„Es ist alles deine Schuld! Wie konntest du das tun?“ schrie sie, wobei sie ebenso ihn als auch sich selbst und Darius meinte. „Es ist deine Schuld!“
„Es ist genug!“ brüllte ihr Vater schließlich und packte sie an den Schultern. „Beherrsche dich endlich!“
„Er darf nicht sterben, Vater. Er darf nicht sterben. Du musst ihn retten. Schicke ihm Männer hinterher.“
„Ach, Serafina. Er ist doch schon zu weit fort. Darius hat alles genau geplant.“ Als Lazar Tränen in die Augen traten, stürzte sie in seine Arme und begann zu schluchzen.
Ihr war inzwischen klar geworden, dass Darius sein Vorha- ben bis in jede Einzelheit ausgeklügelt hatte. Nun verstand sie viele scheinbar harmlose Äußerungen, deren Bedeutungen ihr auf dem Landgut noch ganz anders erschienen waren.
Ich kann Sie nicht immer retten. Sie müssen selbst in der Lage sein zu überleben.
„Dieser Schuft hat es die ganze Zeit gewusst.“ Weinend klammerte sie sich an ihren Vater. „Er hat mir nicht einmal die Möglichkeit gegeben, ihn aufzuhalten. Wie konnte er mir das antun?“ fragte sie immer wieder.
Nach einiger Zeit übergab Lazar seine Tochter ihrer Freun- din Elisabetta.
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte er heiser.
Weinend gingen die beiden jungen Frauen in Serafinas Ge- mächer zurück, wobei die Prinzessin kaum die Kraft hatte, sich allein zu bewegen. Sie hörte nicht einmal, was Elisabetta sagte.
Doch als sie ihr Schlafzimmer betrat, lag dort Darius’ Gitarre auf ihrem Bett.
Zwischen die Saiten waren ein Gänseblümchen und ein gefalteter Brief gesteckt.
Mit zitternden Händen öffnete sie das feine Büttenpapier und versuchte, die Worte durch den Tränenschleier in ihren Augen zu lesen.
Meine Liebste,
Nimm bitte mein Geschenk entgegen. Ich
schicke dir tausend Küsse. Sei frei, mein
Schmetterling. Stets werde ich über dich
wachen.
DEIN DARIUS
15. KAPITEL
Die Menschen unter ihm sahen wie Ameisen aus, die er von oben betrachtete, während er seine vermutlich letzte Zigarre rauchte. Die Zuschauer standen hinter drei Reihen von Solda- ten, welche die Straße, wo Napoleon entlangkommen sollte, bewachten.
Darius hatte sich vor beinahe vierundzwanzig Stunden auf dem Dach des Mailänder Doms versteckt. Um neun Uhr mor- gens sanken die Leute unter ihm auf die Knie, als sich die vergoldete Kutsche des Papstes näherte.
Darius hatte durch sein zusammenschiebbares Fernrohr beobachtet, wie eine zerbrechlich wirkende Hand aus der Equipage herausgewinkt und den Zuschauern den Segen er- teilt hatte.
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