Gaelen Foley - Knight 01
Kundschaft weg!“
„Aye, warum verdienst du dir dein Geld nicht im Liegen?“ brüllte sein Freund. „Warum Orangen verklopfen, wenn du mit deinem Pfirsichhintern viel mehr Geld machen könntest?“
Sie röhrten vor Lachen über diesen guten Witz.
„Haltet doch euer Maul, ihr Dummköpfe!“ schnauzte sie derart ruppig zurück, dass die Mädchen in Mrs. Halls Pensio- nat schockiert gewesen wären. Aber bei derart vulgären Typen kam man nur mit Unverschämtheit weiter. Gute Manieren wurden einem als Schwäche oder Feigheit ausgelegt – und in ihrer Lage durfte sie es sich einfach nicht erlauben, Schwäche zu zeigen.
„Du gehörst nicht hierher, Zimperliese. Nur ‘ne Frage der Zeit, bis du das Liebchen von ‘nem reichen Pinkel bist.“
„Ich bin die Tochter eines Gentleman!“
„Na, so siehste aus in deinen Lumpen!“
Die zwei bogen sich vor Lachen, worauf sie sich empört von ihnen abwandte – gerade rechtzeitig, um mit anzusehen, wie der kleine Tommy beinahe von einer Droschke überfahren worden wäre. Sein Bruder Andrew riss ihn gerade noch recht- zeitig am Kragen zurück. Erschrocken hielt Bel die Luft an. „Andy! Tommy!“ rief sie.
„Hallo, Miss Bel!“ Die beiden abgemagerten, frechen Stra- ßenjungen winkten ihr zu.
Sie bedeutete ihnen, zu ihr herüberzukommen. Die beiden Jungen stürzten los, gerieten beinah unter einen Rollwagen, und als sie die andere Seite sicher erreicht hatten, schimpfte Bel sie aus, sie sollten doch besser aufpassen, und gab jedem von ihnen ein paar Pennys und eine Orange. Besorgt schaute sie den beiden abgerissenen Knaben nach, als sie auf ihren Posten zurückmarschierten. Tommy schälte seine Orange, und Andrew setzte seinen ganzen fröhlichen Charme ein, damit ein Herr im Zylinder ihm gestattete, dass er die Straße für ihn kehrte.
Sie hatte geglaubt, sie sei schlimm dran, bis sie die Kinder entdeckt hatte. Die beiden Jungen ließen sich ihren Mut und ihren Frohsinn nicht nehmen, obwohl sie wirklich Höllenqua- len durchmachten. Auf den Straßen wimmelte es vor Kindern wie ihnen – ohne Zuhause, ohne Schuhe, halb nackt und völlig abgemagert. Erst eines Nachts im Januar waren ihr die fürch-
terlichen Ausmaße des Problems klar geworden. Damals hatte der schlimmste Winter seit Menschengedenken geherrscht. Während die Reichen auf der zugefrorenen Themse einen Win- terjahrmarkt abhielten, hatte sie sich auf die Suche nach An- drew und Tommy begeben. Sie wollte sie in ihrem Zimmer in einem heruntergekommenen Mietshaus in der City unterbrin- gen, damit sie wenigstens ein Dach über dem Kopf hätten. Überall hatte sie gesucht, und schließlich hatte sie ein mürri- sches Mädchen in ein dunkles Gebäude geschickt, das wie ein verlassenes Lagerhaus aussah. Als sie drinnen die Laterne ge- hoben hatte, hatte sie Unmengen von frierenden Kindern ent- deckt, die sich in der Kälte aneinander drängten. Es waren mindestens siebzig gewesen.
Das Gebäude sei eine Gaunerschule, hatte Andrew erklärt, als sie ihn dort entdeckt hatte. Der Kleine hatte nicht erklären müssen, was sie sofort erfasst hatte: Hier wurden die Jungen zu Dieben ausgebildet, die Mädchen zu Prostituierten. Dies war der schockierendste, furchtbarste Moment ihres ganzen drei- undzwanzigjährigen Lebens gewesen. So etwas hätte sich die behütet auf dem Land aufgewachsene junge Dame niemals träumen lassen.
Das Schlimmste daran war, dass sie kaum helfen konnte. Sie war nicht arrogant genug, ihnen das Stehlen zu verbieten, wenn sie kurz vor dem Verhungern standen. Das harte Strafge- setz, das für jedes Kind über sieben den Tod durch den Strang vorsah, wenn es lumpige fünf Schilling stahl, war schließlich ein noch größeres Verbrechen. Alles, was sie tun konnte, war, den armen kleinen Kerlen Zuneigung zu schenken, sie zu be- muttern und in die Kirche zu schicken.
Sie beobachtete, wie Tommy ein Stück Orange fallen ließ, es rasch wieder aufhob, mit schmuddeligen Fingern abwischte und in den Mund steckte. Seufzend wandte sie sich ab. In die- sem Moment kam ein auffälliger, nur zu vertrauter Phaeton um die Ecke und rollte auf sie zu.
Sie wurde bleich, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Rasch bückte sie sich und wuchtete ihren Korb hoch.
Lieber Gott, bitte mach, dass er mich nicht sieht.
Sie begann davonzueilen, den schweren Korb am Arm, als der elegante Phaeton mit klingelndem Zaumzeug neben ihr zum Stehen kam. Sie biss die Zähne zusammen, wusste sie doch, wie sehr es ihren Verfolger
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