Gaelen Foley - Knight 01
sich auf die einstündige Wanderung durch die grüne Landschaft, wobei er für die schattige Straße dankbar war, denn die Sonne brannte vom Himmel. Schließ- lich kam das Schieferdach des hochherrschaftlichen Anwesens über der Anhöhe in Sicht. Oben auf der Anhöhe machte der Junge eine Pause, um Atem zu schöpfen.
Eine sanfte Brise wehte ihm durch das Haar, während er den prächtigen Ziegelbau betrachtete, der versteckt zwischen den Hügeln lag, und den Teich, in dem sich der blaue Sommerhim- mel spiegelte. Lang blieb der Junge allerdings nicht stehen, denn der Earl of Coldfell würde seine Zeitung wollen.
Er rückte sich die lederne Posttasche auf der Schulter zu- recht und blinzelte in die Sonne. In der Ferne sah er die Stein- metze und Zimmerleute auf dem Gerüst, die immer noch den Ostflügel des Hauses reparierten, der niedergebrannt war, kurz bevor die arme, hübsche, rothaarige Countess ertrunken war. Der arme alte Herr, dachte der Junge, als er den Earl ent- deckte, der auf seinem Stock herausgehumpelt kam, um die Arbeiten zu beaufsichtigen.
Mit seiner kostbaren Last lief der Junge das letzte Stück Weg. Als er den Earl erreichte, strich ihm der nette alte Herr lä- chelnd über das Haar und nahm die Zeitung entgegen.
Mit der „Times“ unter dem Arm ging Coldfell dann in sein Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich und lehnte den Stock an die Wand. Er presste die faltigen Lippen zusammen und hob das Monokel, um die Zeitung grimmig nach einer Mel-
dung von Dolphs Tod zu durchforsten. Nach einigen Minuten eifriger Suche verengten sich Coldfells Augen zu Schlitzen. Nichts.
Mit finsterer Miene richtete er sich auf und ließ das Monokel aus dem Auge fallen. „Verdammt, Hawkscliffe, worauf wartest du nur?“ murmelte er.
Hawkscliffe hatte versprochen, Lucy zu rächen und Dolph zu vernichten, doch seit Coldfell sich aufs Land zurückgezogen hatte, hatte der Herzog nichts anderes getan, als mit seiner auf- fälligen jungen Kokotte durch London zu stolzieren. Zwar konnte er durchaus verstehen, dass Hawkscliffe als viriler Mann nach Lucys Tod Trost bei einer anderen Frau suchte, aber es gefiel ihm nicht. Es tat Not, den Herzog an seine Auf- gabe zu erinnern. In ein paar Tagen wollte Coldfell nach Lon- don zurückkehren, um zu dieser Tory-Dinnerparty zu gehen, die Hawkscliffes Geliebte für ihn veranstaltete. Dann würde er ja selbst sehen, was zum Teufel zwischen dieser Kurtisane und dem Mann, den er insgeheim als seinen zukünftigen Schwie- gersohn erwählt hatte, vor sich ging.
Während es allmählich Sommer wurde, versank Dolph mehr und mehr in Niedergeschlagenheit und Elend. Derartige Ge- fühle hätte er nicht für möglich gehalten.
Nun saß er im Erkerfenster seines Clubs und starrte bitter hi- naus. Jetzt wird sie nie meine Frau.
Er trank sein Bier aus und ging hinaus; er wollte dem Auf- ruhr in seiner Brust beim Kutschieren Luft machen. Als er an dem Schaufenster vorbeikam, durch das er Belinda bei der An- probe ihrer hübschen Kleider beobachtet hatte, blieb er stehen. Ich hasse sie. Ich will sie. Ich brauche sie. Verdammt, was war das für ein Austausch, den Hawkscliffe damals in Vauxhall vorgeschlagen hatte?
Höhnisch warf er den Stumpen seiner Zigarre auf die Straße und ließ die Zügel knallen. Er jagte seinen Phaeton durch die Straßen, als versuchte er seiner eigenen Besessenheit zu ent- kommen. Warum konnte er sie nicht vergessen? Er verstand selbst nicht, warum es ihm so zusetzte, warum es ihn so zornig machte. Entweder ist es Schicksal, oder, so dachte er besorgt, mit meinem Hirn stimmt etwas nicht.
Er fuhr all die Orte ab, an denen er sie früher beim Orangen- verkaufen angetroffen hatte, verließ danach die City und fuhr
nordwärts Richtving Islington, bis er zu der eleganten Allee kam, an deren Ende sich Mrs. Halls Töchterpensionat befand. Ihm war nämlich eingefallen, wie er sich an Hawkscliffe rä- chen könnte.
Das Pensionat lag am Rand eines hübschen Dörfchens, aller- dings ein wenig abseits. Da er einen Monat lang tagtäglich her- gekommen war, um Bel zu sehen, war er mit dem Tagesablauf und dem Gelände der Schule bestens vertraut.
Zwischen dem herrschaftlichen Backsteinbau der Schule und den Läden und dem Pub lag der ehemalige Gemeindean- ger, der mit Blumen bepflanzt und in einen kleinen Park um- gewandelt worden war. Im Zentrum der Grünanlage befand sich ein gepflegter Teich mit einer Schar Gänse, einigen Enten und einem herrlichen Schwan, der sich eitel
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