Gaelen Foley - Knight 03
und in den Krieg gezogen war. Dafür verachtete sie ihn.
Von wegen Vaterlandsliebe, dachte sie. Er war gegangen, weil es ihn nach Abenteuern verlangte, und hatte sie be- stimmt längst vergessen. Er hatte sie im Stich gelassen, sei- ne illegitime Nichte, und nun hing sie zwischen zwei Wel- ten, war weder von Adel wie ihr Vater noch eine gefallene Frau wie ihre Mutter. Kaum dass er ihr Schulgeld rechtzei- tig bezahlte, wie Miss Brocklehurst ihr immer wieder un- ter die Nase rieb. Sie war wenig besser als ein Waisenkind, abhängig von der Wohlfahrt anderer, und das demütigte sie fast noch mehr als die Prügel. Sie schloss die Augen und versuchte, sich von alldem nicht erdrücken zu lassen. Da- bei half ihr nur der Gedanke daran, wie sie das letzte Mal auf der Bühne gestanden hatte.
Sie versuchte sich an die Gesichter der Leute zu erin- nern, die sie voll Freude und Bewunderung angeschaut hatten. Natürlich wusste sie, dass die ausgelassenen Dar- bietungen des Provinztheaters kaum als richtiges Theater galten; Mama hätte sicher angewidert die Nase gerümpft. Das Theater hier war auf ein ganz anderes Publikum zuge- schnitten – keine Aristokraten, sondern die Arbeiter aus Birminghams Fabriken und die Soldaten aus der Kaserne. Miranda war es egal. Selbst wenn es sich um ein drittklas- siges Tourneetheater handelte – sobald die Scheinwerfer leuchteten und der Applaus aufbrandete, wurde sie eine andere Person, eine schöne, sorglose Person, die alle ande- ren glücklich machte, so wie ihre Mutter. Sie brachte die
Leute zum Lachen, sorgte dafür, dass sie ihre Kümmernis- se vergaßen, und wenn sie ihr Beifall klatschten, zujubel- ten oder ihr sogar Blumen zuwarfen, fühlte sie sich für ei- nen flüchtigen Moment wie jemand, der geliebt wurde.
Dies war die beste Art, wie sie jene seligen Kindertage in der privilegierten Welt ihres Vaters wieder aufleben lassen konnte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war und ihre wunderbaren, liebevollen Eltern mit Liedern und Tänz- chen unterhalten hatte. Damals war das Leben voll Sicher- heit und Wärme gewesen. Wie sehr sie einander geliebt hatten, ihr eleganter Vater und ihre Lebens sprühende Mutter! Wenn sie doch bloß verheiratet gewesen wären, überlegte sie elend. Wenn sie heute Abend doch nur mit der Theatertruppe davonlaufen könnte und niemals nach Yardley zurückkehren müsste, wo sie doch nur miss- braucht, geschlagen und verletzt wurde!
Aber sie wusste, was dann mit Amy geschehen würde. Sie hatte gesehen, wie Mr. Reed das hübsche Mädchen be- obachtete, wenn er dachte, dass keiner hinschaute. Miran- da hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass er Distanz wahrte, denn sie war die Einzige, die sich ihm entgegenzustellen wagte. Selbst wenn Mr. Reed und Miss Brocklehurst sie systematisch zu brechen versuchten, weigerte sie sich, das kleine Mädchen im Stich zu lassen, wie sie selbst im Stich gelassen worden war.
Nachdem sie die Strafe verkündet hatten, stolzierten Mr. Reed und Miss Brocklehurst in erhabenem Schweigen hi- naus. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, breitete sich im Schlafsaal ein furchtbares Schweigen aus. Nur Amys leises Weinen war zu hören. Dann knurrte Mirandas Magen vernehmlich, worauf Amy noch lauter weinte. „Du kannst mein Abendessen haben, Miranda. Es ist alles meine Schuld ...“
„Ach, sei still, Amy. Es macht nichts. Das Essen ist ohne- hin ungenießbar.“ Rasch wandte Miranda den Kopf ab, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen. Sie kniete sich ne- ben ihr Bett, griff unter die Strohmatratze und zog vor- sichtig ihr Kostüm hervor. Sie hielt es hoch und betrachte- te es voll Ehrfurcht. Es war so schön, dass ihr das Herz wehtat, aus hauchfeinem Musselin in zartem Lavendel- blau, mit silbernen Pailletten besetzt.
Die anderen Mädchen scharten sich um sie und starrten das Kostüm in andächtigem Schweigen an, als wäre es ein Wunderwerk aus einer anderen Welt. Es war ein Kleid für eine Märchenprinzessin, eine Elfenkönigin, ein Feenkind, das zwischen Alltags– und Anderswelt stand und weder in die eine noch in die andere gehörte. Miranda schüttelte den Gedanken ab. Nachdem sie sich bereits gewaschen hatte, streifte sie sich rasch das fleischfarbene Trikot über, das all die Tänzerinnen und Schauspielerinnen unter ihren Kos- tümen trugen, und schlüpfte dann in das ärmellose Musse- linkleid. Sofort fühlte sie sich wie verwandelt.
Dann eilte sie zum Spiegel und bändigte das volle,
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