Gaelen Foley - Knight 06
gezogen, um dem Badegast zu ersparen, das steinige Ufer zu be- treten und von der Brandung erschreckt zu werden. Wenn eine Tiefe von zwei oder drei Fuß erreicht war, wurde die kleine Tür geöffnet, und die Dame erschien wieder, im keuschen Badean- zug und einer Haube auf dem Kopf. Vorsichtig stieg sie dann die kleine Leiter hinab mit Unterstützung der beiden Badehelfe- rinnen, zwei kräftigen Matronen mit großen Hüten, die im Was- ser standen, gleich einem rettenden Anker.
Becky beobachtete diesen Vorgang aufmerksam, während sie zum Wasser ging. Bei jedem Schritt knirschten Kiesel unter ih- ren Füßen. Sie hatte nicht die Absicht, eines dieser albernen Vehikel zu benutzen, sondern vertraute darauf, dass die eige- nen Füße sie ganz wunderbar ins Wasser bringen würden. Ihr Gesicht war durch eine breitkrempige Haube vor den mögli- chen Blicken unliebsamer Kosaken geschützt, und als Bade- anzug trug sie eine leichte grüne Pelerine über einem beschei- denen Beinkleid aus einem rehbraunen Kattungewebe. Es war weit genug, um ihr Bewegungsfreiheit zu bieten, am Hals hochgeschlossen und langärmelig, sodass es sie vor der Sonne schützte.
Mit leichtem Stirnrunzeln warf sie einen Blick hinauf zu den Klippen, dann nahm sie Haube und Pelerine ab und warf sie an den Strand, um sie später wieder anzulegen. Das Wasser würde sehr kalt sein, und sie würde den leichten, ärmellosen Umhang
brauchen, um in dem nassen Badegewand nicht zu frieren, wenn sie ihren Auftrag erledigt hatte. Sie blinzelte ins Sonnenlicht, während sie die geliehenen Halbstiefel aus Ziegenleder auszog. Dreiste Möwen pickten in der Nähe an einer toten Krabbe he- rum, Becky rümpfte die Nase und wandte sich ab.
Das Wasser wirbelte und schäumte um ihre Beine, Büschel von Seegras streiften ihre bloßen Füße, während sie in die Brandung watete. Der Wind spielte mit ihrem Haar, das sie zu einem langen Zopf geflochten hatte. Sie suchte den Strand und das Wasser nach Parthenia Westland ab und bemühte sich da- bei, sich nicht von der Schönheit des Meeres ablenken zu las- sen. Es gefiel ihr, das Element ihrer Geburt, und sie bezog Kraft daraus.
Als das Wasser ihre Taille erreicht hatte, stieß sie vor Käl- te einen leisen Schrei aus. Zugleich bemerkte sie, dass die Ba- dehelferinnen an diesem Tag viel zu tun hatten. Etwa fünfzig Schwimmerinnen waren im Wasser zu sehen, und die fünf Bade- karren brachten immer noch mehr Frauen heran. Beckys Zäh- ne klapperten ein wenig, als sie sich, die Augen mit der Hand vor der Sonne abgeschirmt, die Badenden gründlich ansah. Da! Parthenia Westland! Beim Anblick der gewöhnlich so elegan- ten, nun klatschnassen Lady unterdrückte sie ein Lächeln. Jetzt musste sie nur noch den richtigen Moment abwarten.
Becky tauchte ins Wasser und schwamm in Parthenias Rich- tung. Die Sonne, die Bewegung und der Wind erfrischten sie an- genehm. Die anfängliche Kälte verging, und Becky fühlte sich’ wohl, ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren.
Vorher hatte sie Alec – außer Hörweite von Lord Draxinger – gefragt, wie sie Parthenias Aufmerksamkeit so erregen könnte, dass sie ihr zuhörte. Immerhin war ihr Verlobter ein Meister in gesellschaftlichen Manieren.
„Ganz einfach. Schmeichle ihr.“
„Wie?“
„Du musst ihrer Eitelkeit schmeicheln, das funktioniert im- mer“, hatte er erklärt. Dann hatte er ihr geholfen, eine nicht zu komplizierte, aber dennoch wirkungsvolle Geschichte zu erfin- den – die entscheidenden Informationen sollten so gut wie mög- lich verpackt sein, um damit Parthenias Mitarbeit zu erreichen. „Drax denkt nur das Beste über sie“, hatte Alec leise bekannt, als sie vor den anderen zur Kutsche gegangen waren. „Gleich-
wohl ist sie ein arrogantes Frauenzimmer. Versuche also nicht, ihr ebenbürtig zu sein, dann wird sie dir nicht zuhören.“
„Ich soll unterwürfig sein?“, hatte Becky wenig begeistert ge- fragt.
„Nur dieses eine Mal“, erwiderte er und gab ihr einen raschen Kuss. „Wenn du es aushältst.“
Und auch wenn ich dieses eine Mal lügen muss, dachte sie sich, dann soll es so sein. Die Wahrheit wird zur rechten Zeit ans Tageslicht kommen.
Eine Weile ließ sie sich auf dem Rücken treiben, die Röcke ihres Badekleides breiteten sich über die Wellen aus und schau- kelten sanft hin und her. Die Arme an den Seiten ausgestreckt, blickte sie hinauf zu den flauschigen weißen Wolkengebirgen mit dem Himmel dahinter, der so blau war wie Alecs
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