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Gaisburger Schlachthof

Gaisburger Schlachthof

Titel: Gaisburger Schlachthof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Atmung hob und senkte den Bauch unter der mächtigen Muskelbrust. Es war eine Ruheatmung, die mir mit ihrem suggestiven Takt den Atem nahm.
    Nie wieder würden Horsts Muskeln aktiv bewegt werden. Dieses Prachtstück von Körper gehörte ihm nicht mehr. In ein paar Monaten würde er keine Ähnlichkeit mehr mit sich selbst haben. Die Pracht würde schnell erschlaffen, verkümmern und verschwinden.
    Ich legte die Hand auf den nackten Arm. Insgeheim erwar tete ich eine Reaktion, ein Zucken der Augenlider, eine win zige Muskelanspannung, mit der jeder nervöse Organismus auf Berührungen antwortete. Aber außer Wärme deutete nichts auf menschliches Leben hin.
    Noch schlug Horsts Herz in unverständlichem Lebenstrotz. Noch arbeitete das Gehirn in tiefer Abgeschiedenheit, sich selbst und der Nähe zum Nirwana überlassen, und funkte rätselhafte elektronische Spuren auf den Bildschirm.
    Wenn der unbewusste Ratschluss des Lebens Horst zwang, aus dem Koma zu erwachen, würde er sich vermutlich niemals an den Kampf erinnern, der ihn für immer den Maschinen unterworfen hatte. Schon ein geringerer physiologischer Schock als ein Sturz auf den Kopf reichte, um augenblicklich alles dem Vergessen anheimzugeben, was das Hirn in den zehn Sekunden vorher wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich war auch alles, was in den zwanzig Minuten davor in seinen Überlegungen eine Rolle gespielt hatte, nicht mehr in den Langzeitspeicher überführt worden.
    Horst würde sich womöglich nicht einmal mehr an den letzten Tag erinnern, den er in körperlicher Freiheit verbracht hatte, denn die Nacht, in der sich sein Geist momentan befand, verhinderte, dass sein Gehirn die Ereignisse erneut durchlebte und mithilfe einiger Wiederholungen in den Neuronen abspeicherte. Zwei Fragen würde Horst sich wohl niemals beantworten können: Warum er zwei junge Frauen auf der Straße angegriffen hatte und wie er damit weiterleben sollte. Niemals konnte er mich kraft eigener Erkenntnis für das verantwortlich machen, was vor ihm lag.
    An der Tür gab es ein Geräusch. Da das wütende Schlurren der Krankenschwestersandalen ausblieb, wandte ich mich um.
    Da stand Gertrud im grünen Kittel, sprachlos vor Überraschung. In ihren Augen glühte der Vorwurf, den sie mir andernorts ins Gesicht geschrien und in meine Augen gekratzt hätte: Du wagst es? Du? Du traust dich hierher?
    Mit dem skrupellosen Egoismus, mit dem man das Seine verteidigte, wünschte sie mich unter das Laken, unter dem Horsts Körper siechte. Dann hätte sie nicht hier stehen müs sen. Und ich hätte mich nicht gefragt, ob sie diesen Krankenbesuch vor ihrem Mann verheimlicht hatte.
    Bis dahin hatte ich geglaubt, Schiller sei Gertruds Gelieb ter gewesen, nicht Horst Bleibtreu.

19
     
    Vor dem Krankenhaus standen in Reih und Glied die Taxis. Ich ließ mich zum Pressehaus hinauffahren. Die Kaffeemaschine gurgelte wie gewöhnlich, Tastaturen klapperten, Telefone jaulten, Stimmen flirrten. Vielleicht waren die Gestalten, die meinen Weg kreuzten – Ruth Laukin in ihrem stets knittrigen Kostüm, der alte Wesel mit seiner Wollweste, Pit mit seinem Hemdbauch –, nicht pantoffeliger als sonst, aber mir kamen die Kabäuschen, die Computer und die mit Papier überhäuften Tische vor wie eine risikofreie Wichtigtuerei fern von Sonne und Regen.
    Jemand hatte mir einen Zettel auf die Tastatur gelegt: »Weber bittet um Rückruf.« Ich eruierte die Nummer der Staatsanwaltschaft. Eine Sekretärin namens Kallweit teilte mit, Herr Dr. Weber sei in der Sitzung.
    Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich über meine Papierberge zu machen. »Blond, stark, tot.« Eine Sonntagszeitung hatte bereits ausführlich eine Bodybuilderin interviewt. Ich fügte mich dem Prinzip aller publizistischen Arbeit, auf die Interviewpartner der Vorgänger zurückzugreifen, und lief bei der Recherche nach der Telefonnummer zur persönlichen Höchstform auf. Die Dame war Teil eines Ehegespanns, das übermorgen bei den German Masters in der Liederhalle lebende Anatomie vorführen würde, und durchaus bereit, lachend und rauchend – wie ich hörte – aus ihrem Leben zu plaudern.
    Vor sechs Jahren hatte sie noch 80 Kilo auf die Waage gebracht, und der Freund war ihr davongelaufen. Jetzt gehörte sie mit 65 Kilo bei 169 Zentimetern Größe immer noch zu den Schwergewichten, fand aber, dass sie total gut aussah. Natürlich machten sich die Leute immer wieder über sie lustig. Wenn in ihrer Firma ein Schrank zu wuchten war, rief man nach Ilona.

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