Galgenberg: Thriller (German Edition)
darauf hin, dass sie fit und athletisch war. Als sie noch gelebt hat, war sie körperlich aktiv.«
»Arm war sie jedenfalls nicht, so viel steht fest«, mischte sich Raheema Patel ein. »Sehen Sie sich das Gebiss an.«
Die Zähne waren gleichmäßig und gesund. »Bei so gepflegten Zähnen konnte man vor zwanzig Jahren in Südafrika davon ausgehen, dass jemand weiß ist. Das bestätigen die offenkundig kaukasischen Gesichtszüge. Das können Sie so notieren, Clare.«
»Es wäre viel einfacher, wenn wir wüssten, wie sie aussah«, meinte Clare und ließ den Stift über dem Notizblock schweben.
»Dafür brauchen Sie einen Fachmann für Gesichtsrekonstruktionen«, sagte Solly Friedman. »Wenn Sie möchten, fertigt Raheema Ihnen einen Gipsabguss des Schädels an.«
»Kein Problem, Doc. Ich habe ja so viel Zeit übrig.«
»Auf diese Weise bleiben Sie in Übung und haben keine Zeit für andere Dummheiten«, stichelte Friedman und griff nach einer Rippe. »Mit Sicherheit kann ich Ihnen sagen, dass sie an Rippe zwölf einen verheilten Bruch hatte.« Friedman studierte den gekrümmten Knochen. Dann griff er nach den Knochen des linken Unterarmes. »Hier am Radius gab es ebenfalls einen Bruch. Auf gleicher Höhe mit diesem Bruch der zwölften Rippe. Eine Kindheitsverletzung. Es sieht so aus, als hätten sich beide gleichzeitig ereignet. Bestimmt erleichtert es die Identifizierung, Clare, wenn Sie nach einer Familie suchen, die jemanden vermisst, der sich irgendwann gleichzeitig das Handgelenk und die Rippen gebrochen hatte. Zum Beispiel bei einem Autounfall. Oder beim Reiten.«
Ein Mädchen auf einem Pferd. So ein Mädchen war Clare früher selbst gewesen, sie hatte die wilde weiße Stute geritten, die ihr Vater ihr geschenkt hatte. Damit war sie stundenlang über das veld galoppiert, um dem Farmhaus zu entfliehen, in dem sich ihre bleiche, stumme Mutter gemeinsam mit Clares schüchterner Zwillingsschwester Constance vor der Sonne des Namaqualandes versteckt hatte.
»Das Becken«, fuhr Friedman fort. »Sehen Sie hier – diese Furchen am Rücken.«
Clare sah etwas, das wie Kerben im Knochen aussah.
»Sie hat mindestens ein Kind zur Welt gebracht«, sagte Friedman.
»Wie alt war das Baby, als sie starb?«
»Mindestens zwei«, antwortete Friedman. »Eventuell sogar vier oder fünf.«
Sie fuhr die Geburtsmale nach, die sich auf der Rückseite in das Becken der Toten gegraben hatten. In Clares Geist blitzte das Bild eines Kindes auf, das auf seine Mutter wartete, auf jenen Schmetterlingskuss, der es einschlafen lassen würde. Eines Kindes, das, da dieser Kuss nie mehr kommen würde, mit großen Augen in der Dunkelheit lag. Sie versuchte, sich das endlose Warten auszumalen, das irgendwann zu einem unauslöschbaren Gefühl von Verlust verknöcherte. Das Warten, das sich irgendwann zu Angst wandelte. Und dann Zorn. Clare fragte sich, wie es sich wohl schließlich geäußert hatte.
»Man muss die Knochen nur lang genug studieren«, Raheema Patel legte die Hand auf Clares Arm und holte sie damit zurück in die klinische Atmosphäre des Sektionsraumes, »dann lassen sich ihre Geheimnisse lesen.«
»Kein Ehering«, bemerkte Clare.
»Ein fehlender Ehering ist nicht mit einem fehlenden Ehemann gleichzusetzen«, wandte Friedman ein. »Ein guter Zeitpunkt, um uns Gedanken über die Todesursache zu machen.«
Clare griff nach dem Schädel.
Deutlich hervortretende Wangenknochen, elegante Brauen, die möglicherweise mandelförmige Augen überwölbten, ein fein gerundetes Kinn. Über alldem das zerklüftete Loch in der Stirn.
»Angel – so könnten wir sie nennen«, sagte Raheema Patel. »Meinen besonderen Fällen gebe ich immer Namen.«
»Ja, unsere Namen. Ein Teil dessen, was uns zu Menschen macht.« Clare umfuhr mit dem Finger die Bruchstelle an der rechten Schläfe. »Die war bestimmt tödlich.«
»Falls sie ante mortem beigebracht wurde, dann mit Sicherheit. Ihr Zungenbein ist intakt.« Friedman deutete auf einen kleinen Knochen im Kehlkopf. »Erwürgt wurde sie also nicht.«
Er zupfte mit der Pinzette winzige Steinchen aus dem Schädel.
»Sind das vielleicht Fragmente von dem hier?« Clare nahm mit ihren Handschuhen den Stein, den Friedman in die Nierenschale gelegt hatte.
»Sieht aus, als hätten wir hier die Mordwaffe«, urteilte der Anthropologe. »Wir können das noch analysieren lassen, um ganz sicherzugehen, aber die Splitter in ihrer Stirn sehen genauso aus.«
»Sie wurde also umgebracht und dann am
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