Galgenberg: Thriller (German Edition)
Gewaltverbrechen.«
Clare dachte nach. Ein Serienkiller befeuerte – selbst wenn er Obdachlose als Opfer wählte, selbst wenn sich die Morde inmitten eines nicht erklärten Bürgerkrieges ereigneten – immer die Fantasie der Öffentlichkeit. Und das hieß, dass die Polizei genauer im Auge behalten wurde. Damit war es wahrscheinlicher, dass die Fälle tatsächlich bearbeitet wurden, dass das Beweismaterial archiviert und den Spezialisten übergeben worden war – das ballistische Labor der Einheit für Psychologische Verbrechen draußen am Rand der Cape Flats hätte die Tests tatsächlich vorgenommen.
Außerdem kannte sie Shorty de Lange, den kommissarischen Direktor des ballistischen Labors. Kommissarisch wegen seiner Hautfarbe, Direktor wegen seiner Fähigkeiten. Er hatte Clare das Schießen beigebracht und sie Patrone um Patrone aus ihrer kleinen Browning abfeuern lassen, bis sie eine Kugel auf fünfzig Meter Entfernung im Herz der Zielscheibe versenken konnte. Vor dreiundzwanzig Jahren hatte Shorty de Lange dort wahrscheinlich gerade angefangen. Er und Riedwaan aus entgegengesetzten Startpositionen. Mit Riedwaan befreundet, weil beide sich nicht für dumm verkaufen lassen wollten. Beide auf der Karriereleiter in halber Höhe stecken geblieben, weil beide nicht fähig waren, sich aus Opportunismus blind zu stellen.
Während sie darauf wartete, dass der Archivar das restliche Material brachte, holte sie ihr Handy heraus und schrieb De Lange eine ausführliche SMS.
Sie blätterte weiter. Andere Geschichten lenkten sie ab und verlangsamten ihren Fischzug nach Berichten über vermisste Frauen. Draußen auf den Cape Flats hatte sich ein weiterer Serienmörder durch die Sanddünen geschlichen. Der Bahnhofswürger. Er hatte seine Opfer unter den halbwüchsigen Jungen gesucht, und die Zahl der Leichen war Monat um Monat gestiegen. Dass die Frau im grünen Kleid diesem Killer zum Opfer gefallen war, war unwahrscheinlich. Falsches Profil, falsches Geschlecht, falsche Gegend.
Clare reckte die Arme nach oben und sah zur Decke auf.
Es sei denn, die Frau stammte gar nicht aus Kapstadt, grübelte sie. Ihr Kleid war es jedenfalls nicht. Falls niemand gewusst hatte, dass sie sich in Kapstadt aufhielt, wäre auch niemand auf die Idee gekommen, nach ihr zu suchen. Das Bild dieser jungen Frau in einer Kiste, die selbst für ihren zierlichen Körper zu eng war, ging ihr nicht aus dem Kopf. Einer Frau, die sich an einem Abend vor dreiundzwanzig Jahren besonders hübsch angezogen hatte, vielleicht sogar voller Vorfreude. Einer Mutter, die nie heimgekehrt war, um ihre Sandalen abzustreifen und auf Zehenspitzen für einen verstohlenen Gutenachtkuss in das Zimmer ihres Kindes zu schleichen.
Wer hatte sie vermisst? Wer hatte nach ihr gesucht? Wer hatte um sie getrauert? Und wer hatte auf sie gewartet? Wer hatte sie in diese Kiste gezwängt und zugesehen, wie der Beton ausgehärtet war? Fühlte sich ihr Mörder immer noch verfolgt?
Clare packte ihre Sachen zusammen und huschte aus der Bibliothek. Sie ging schnell, aber die Fragen ließen sich nicht abhängen. Sie drückte die Fernbedienung für ihren Wagen. Das Auto piepste nicht. Und die Tür war unverriegelt. Verflucht. Vielleicht war die Zentralverriegelung kaputtgegangen, als ihr Auto auf dem Parkplatz in Green Point geknackt worden war. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, das reparieren zu lassen – ein weiterer Punkt auf ihrer Liste unerledigter Dinge.
Doch im Moment gab es Drängenderes. Clare rief die Auskunft an und ließ sich die Nummer von Saskia Properties geben. Sie bat, mit Saskia sprechen zu dürfen, woraufhin ihr eine dürre Stimme mitteilte, dass Mrs Sykes nur zu den Sitzungen des Aufsichtsrates ins Haus komme. Nach längerem Zureden bekam sie tatsächlich die Privatnummer der Frau.
Ein kurzes Telefonat mit Rita Mkhize, und schon hatte sie die Adresse.
15
Das Constantia Valley leuchtete grün, der Trockenheit zum Trotz. Die Weinstöcke am Berg standen in Reih und Glied. Die Adresse, weit hinten im Monterey Drive, war so exklusiv, wie es in Kapstadt nur ging.
»Ich möchte mit Mr und Mrs Sykes sprechen«, erklärte Clare dem Wachmann. »Sagen Sie ihnen, es geht um das Grundstück am Gallows Hill.« Er trat in sein Häuschen und sprach, den Blick fest auf Clare gerichtet, ins Telefon. Wenig später öffnete er den Schlagbaum, und sie fuhr die gewundene Zufahrt hinauf. Das Haus war blendend weiß gestrichen. Ein Gärtner arbeitete im Senkgarten
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